Foto: iStock
Ein Ostermärchen
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Als Seelsorger in der Kinderklinik versuche ich immer, mit einem Märchen gewappnet zu sein für den Fall, dass ich Kindern eine Geschichte erzählen darf. Zu Ostern zum Beispiel diese hier:
Es war einmal eine Frau, die hatte ein einziges Töchterchen. Das war sehr klein und blass und anders als andere Kinder. Wenn sie spazieren gingen, dann blieben die Leute oft stehen und schauten dem Kind nach. Wenn das kleine Mädchen seine Mutter fragte: «Weshalb sehen mich die Leute so an?», antwortete sie jedes Mal: «Weil du ein so wunderschönes Kleidchen anhast.» Dann war die Kleine zufrieden.
Nach einiger Zeit wurde die Mutter krank und starb. Der Vater nahm sich nach einem Jahr eine andere Frau, die war schöner, jünger und reicher, aber nicht so gut wie die richtige Mutter. Sie ging auch oft spazieren, aber das kleine Mädchen nahm sie nie mit. Endlich fasste es sich ein Herz und bat: «Nimm mich doch mit!» Aber die neue Mutter schlug es rundweg ab und sagte: «Du bist wohl nicht gescheit! Was sollen die Leute denken, wenn ich mich mit dir sehen lasse? Du bist ja ganz bucklig! Bucklige Kinder gehen nie spazieren, die bleiben immer zu Hause.»
Da wurde das kleine Mädchen ganz still. Als die Mutter das Haus verlassen hatte, stellte es sich auf einen Stuhl und besah sich im Spiegel. Und tatsächlich, es war bucklig, sehr bucklig. Es setzte sich wieder hin und dachte: «Was mag da nur in meinem Buckel sein?» Der Winter kam, da wurde das kleine Mädchen immer blasser und schwächer, und schliesslich starb es.
Als es begraben war, kam ein Engel geflogen und klopfte an das Grab, als ob es eine Tür wäre. Sofort kam das kleine Mädchen aus dem Grab heraus, und der Engel verkündete ihm: «Ich bin gekommen, um dich zu deiner Mutter in den Himmel zu holen!» Das Mädchen fragte schüchtern: «Können denn auch bucklige Kinder in den Himmel?» Da berührte der Engel seinen Rücken und sagte: «Gutes Kind, du bist gar nicht mehr bucklig!» Und richtig, der alte garstige Buckel fiel ab wie eine grosse hohle Schale. Was war darin? Zwei herrliche Flügel. Die spannte das Mädchen aus, als ob es schon immer hätte fliegen können, und flog mit dem Engel durch den blitzenden Sonnenschein. Und im Himmel sass die Mutter und schloss es in die Arme.
Nach Richard von Volkmann-Leander, Das kleine bucklige Mädchen, aus: Träumereien an französischen Kaminen.
Kaspar Junker, Seelsorger im Inselspital