«Wer alles gibt, hat die Hände frei», heisst das aktuelle Buch von Andreas Knapp. Foto: Jeremy Yap, unsplash.com
Ein Plädoyer für ein einfaches Leben
Andreas Knapp, Ordensbruder und Autor, im Gespräch
Andreas Knapp gehört dem Orden der Kleinen Brüder vom Evangelium an, die sich in ihrer Spiritualität an Charles de Foucauld orientieren. Er lebt mit drei Mitbrüdern in einem Plattenbau in Leipzig (D), wo er sich in der Gefängnisseelsorge und der Flüchtlingsarbeit engagiert. In seinem Buch «Wer alles gibt, hat die Hände frei» beschreibt er, wie befreiend ein einfacher Lebensstil sein kann und wie ein Blick auf das Leben Jesu vor Resignation bewahrt. Ermutigende Impulse für die Fastenzeit.
Interview: Detlef Kissner
In Ihrem Buch machen Sie deutlich, dass Jesu Wirken nicht erst mit seiner Taufe am Jordan begann, sondern schon in der Zeit davor.
Jesus ist in Nazaret aufgewachsen und ist dort in die Schule des Lebens gegangen. Er hat in einer Familie gelebt, hat einen Beruf gehabt und gearbeitet. Viele Bilder, die Jesus in seiner Verkündigung gebraucht hat, stammen aus Erfahrungen dieser Zeit: Bilder aus dem Haushalt, von der Arbeit, von den Feldern, vom Weinberg, vom Fischfang. Ich denke, dass auch seine Gotteserfahrung aus dieser «verborgenen» Zeit in Nazaret herrührt. Er ist dort in die Synagoge gegangen, hat die heilige Schrift seines Volkes kennengelernt.
Sie schreiben: «Nazaret steht also nicht nur für einen geografischen Ort, sondern für eine Option. Für eine Lebensweise, einen spirituellen Stil.» Wie lässt sich diese Lebensweise charakterisieren?
Wir glauben, dass Gott in Jesus von Nazaret Mensch geworden ist. Das bedeutet, dass Gott eben eine bestimmte Vorliebe für dieses ganz gewöhnliche Leben hat, das man dort finden kann. Man muss also nicht irgendwelche besondere Orte aufsuchen oder besondere Taten vollbringen, um Gott zu finden. Der Alltag mit all seinen gewöhnlichen Vollzügen und mit ganz normalen menschlichen Beziehungen ist der Ort, wo man Gott finden kann. Nazaret steht für das Gewöhnliche, nicht für das Privilegierte. Das ist eine grosse Ermutigung für uns.
Wie kann es uns gelingen, «den allergewöhnlichsten Tagesablauf mit Leidenschaft zu leben»?
Das braucht eine besondere Aufmerksamkeit. Zum Stil von Nazaret gehört, dass man sich Zeit nimmt für Stille und Gebet, um dadurch eine neue Sichtweise zu erhalten. Wenn wir im Getriebe des Alltags sind, übersehen wir oft die kleinen Zeichen der Nähe Gottes oder die Winke, die wir von Gott erhalten. Aber wenn ich innehalte, wenn ich Momente der Stille suche - das können kleine Augenblicke sein -, fällt mir auf, dass mich heute jemand angesprochen hat, mir etwas geschenkt worden ist, mir etwas Wichtiges mitgeteilt wurde. Wenn ich aufmerksam bin für die kleinen Dinge, die mir jeden Tag entgegenkommen, kann sich daraus diese Leidenschaft für den Alltag ergeben.
Sie bringen das «Beachten eigener Grenzen» mit «Frieden» in Verbindung. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Wir Menschen tendieren dazu, unsere Grenzen auszuweiten. Es ist zunächst einmal etwas Positives, dass ich Dinge ausprobieren und vorwärtskommen möchte. Aber unser Leben ist so gestrickt, dass wir immer auch an Grenzen kommen. Wenn ich nun immer jenseits meiner Grenzen leben will, dann überfordere ich mich und andere. Deswegen ist es wichtig, die Grenzen wahrzunehmen, sie dort auszuweiten, wo es geht, aber es auch zu akzeptieren, dass mir manche Grenzen gesteckt sind. Wo ich Grenzen positiv annehme, dort finde ich Frieden. Wenn ich immer versuche, noch mehr herauszuholen aus mir, aus anderen oder aus dieser Welt, überfordere ich mich und die anderen. Dann bin ich unzufrieden, komme ich nicht in Frieden mit mir selbst und gerate in Konflikte mit anderen.
Sie stehen Geld, Besitz und Konsum kritisch gegenüber. Welche Gefahren birgt eine materialistische Lebensweise?
Zunächst einmal muss natürlich jeder Mensch das haben, was er zum Leben braucht. Es braucht eine Grundsicherheit. Wir brauchen Nahrung und einen sicheren Wohnort. Aber es gibt auch eine Tendenz, dass man nicht genug bekommen kann. So kann ein Kreislauf, eine eigene Dynamik entstehen. Die Wirtschaft lebt ja davon, dass es immer Wachstum gibt. Es braucht ständig neue Dinge, um diese Maschinerie des Konsums am Laufen zu halten. Das birgt die Gefahr, dass ich immer Neuem hinterherjage, nie zufrieden bin und nicht zur Ruhe komme.
Wie kann man dieser Gefahr entgegentreten?
Zu einem Stil von Nazaret gehört es zu lernen, mich mit dem zufriedenzugeben, was mir zukommt. Diese Spirale des «Immer-mehr» will letztlich verwandelt werden in eine spirituelle Dynamik. D. h. ich nehme wahr, dass mein Hunger mit materiellen Dingen nie ganz gestillt werden kann und dass immer etwas fehlt. Dieses Fehlen verweist auf eine andere Wirklichkeit. Letztlich – so sagt unser Glaube – ist es nur Gott, der unseren tiefen Hunger stillen kann. Deswegen braucht es eine spirituelle Dimension, dass ich im Gebet und in der Stille nach Gott suche und dass ich mir dort Erfüllung erhoffe.
Auch wenn wir nicht im Überfluss leben, haben wir dennoch das Bedürfnis, vorausschauend zu handeln und uns gegen Unvorhergesehenes abzusichern. Wie kann man da eine gute Balance halten?
Man sollte aufmerksam auf seine eigenen Bedürfnisse sein, schauen, wo es auch Fallen gibt, und versuchen, diesen entgegenzusteuern. Vielleicht muss ich mich auch nach einem anderen Weg umschauen, der mir Sicherheit gibt, z. B. im Gebet, in der Beziehung zu Gott.
Mir hilft es auch, wenn ich mit Brüdern oder Freunden darüber rede, was ihnen Halt und Sicherheit gibt. Der Austausch kann helfen, die eigenen Bedürfnisse besser kennenzulernen oder sich der Solidarität der anderen bewusst zu werden und damit dem inneren Strudel nach Absicherung etwas entgegenzusetzen.
In Ihrem Buch werben Sie für Einfachheit. Sie schreiben: «Nicht tausend Sensationen schenken Glück, sondern der Sensus für das Echte, das berührt.» Wie kann man zu einem solchen Lebensstil finden?
Mir persönlich hilft es, in die Natur zu gehen. Draussen in der Schöpfung kann ich ruhig werden, kann wieder ihre Schönheit wahrnehmen. Manchmal sind es gerade die einfachen Dinge, die uns berühren: der Gesang eines Vogels, der Blick auf die Berge, das Wasser, das fliesst. Mir hilft das, mehr zu innerem Frieden zu kommen und auch die Kostbarkeit des Lebens wieder zu spüren.
Eine andere Möglichkeit besteht darin, sich im Blick auf sein Konsumverhalten zu hinterfragen, sich nicht manipulieren zu lassen von dem, was «man» haben muss, sondern nachzuspüren, was «ich» für mich brauche und was mir Erfüllung schenkt. Dabei kann man auch Erfahrungen mit Einfachheit machen.
Sie betonen die Bedeutung von Stille. Welche Erfahrungen haben Sie mit Zeiten der Stille gemacht?
Mir hilft die Stille, Abstand zu finden vom Trubel, wieder bei mir selbst anzukommen, mein eigenes Dasein zu spüren, wahrzunehmen, was mir zufliesst, und zu erleben, dass ich mein Leben nicht machen muss. Denn in der Stille macht man ja nichts. In unserer Gesellschaft sind wir oft zum Machen verurteilt, müssen funktionieren, müssen Rollen spielen. Die Stille ist hingegen der Raum, wo ich sein darf, ohne dass ich etwas mache. Hier kann ich spüren, dass mir mein Leben geschenkt ist, dass ich Gottes Kind bin.
Wie gelingt es Ihnen, im Alltag solche Zeiten einzurichten?
Zum einen braucht es bewusste Zeiten. In meiner Gemeinschaft haben wir die Regel, dass wir uns eine Stunde pro Tag eine Zeit der Stille nehmen. Wir haben uns in unserer Wohnung einen Raum als Kapelle eingerichtet. Wenn man in einem anderen Kontext lebt, kann man sich dies nicht unbedingt leisten. Aber es gibt vielleicht die Möglichkeit, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen, in denen man nichts tut. Man kann morgens vor der Arbeit aus dem offenen Fenster schauen, ein paar Mal tief durchatmen und sich sagen: «Ich danke, dass ich an diesem Morgen da sein darf, und bitte darum, dass ich aufmerksam durch diesen Tag gehe.» Das kann schon ein kleiner Türöffner für den Tag sein.
Zum anderen gibt es in unserem Alltag immer wieder Wartezeiten. Statt auf das Handy zu schauen, kann ich versuchen, bewusst da zu sein, die Menschen um mich herum wahrzunehmen, nachzuspüren, was mich selbst gerade bewegt oder vom letzten Gespräch nachklingt. Bin ich berührt, aufgewühlt oder verärgert? Schliesslich kann man auf seinem Weg auch kurz in einer Kirche haltmachen und auf die Stille hören.
Sie bezeichnen die Lebensweise Nazaret als «Antiresignativum». Inwieweit kann uns diese Haltung in Zeiten von Krieg, drohendem Klimawandel und Erdbebenkatastrophe Mut machen, uns weiterhin mit unserem bescheidenen Beitrag einzubringen?
Da hilft mir der Blick auf Jesus von Nazaret. Er hat auch in einer Zeit gelebt, die geprägt war von Krieg, Unterdrückung, Ausbeutung durch die Römer und vielen Spannungen. Genau in dieser Zeit hat er versucht, eine andere Wirklichkeit zu leben. Er nannte das: «Das Reich Gottes hat schon begonnen.» Das ist mein Glaube, dass wir mitten in dem, was gerade politisch, wirtschaftlich, ökologisch schwierig ist, nicht die Hände in den Schoss legen oder resignieren, sondern durch unser Leben zeigen, dass es eine andere Möglichkeit gibt.
Die neue Welt Gottes beginnt dort, wo Menschen jetzt schon anders leben, wo sie ihren Beitrag leisten - und sei er noch so klein. Z. B. indem sie Flüchtlingen Sprachunterricht erteilen, sich ökologisch verantwortlich verhalten beim Einkaufen oder im Verkehr. Natürlich verändere ich damit nicht die ganze Welt, ich leiste nur einen winzigen Beitrag. Jesus hat genau so gelebt. Er hatte nicht die Hoffnung, das Römische Reich zu bekehren. Er hat deutlich gemacht, dass mit dieser Haltung, mit diesem konkreten Leben die neue Welt Gottes schon beginnt.
Erstpublikation im Forum Kirche, Pfarreiblatt der Bistumskantone Schaffhausen und Thurgau
Dr. Andreas Knapp ist Priester und Autor. Sein literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizer Herbert-Haag-Preis (2018).
Buchinweis: Andreas Knapp: Wer alles gibt, hat die Hände frei. Mit Charles de Foucauld einfach leben lernen, Bene 2021, 176 S., Fr. 28.90