Bis 1980 wurden hunderttausende Kinder in Heimen versorgt oder in Anstalten weggesperrt. Der Kanton Bern war dabei überproportional vertreten. Foto: Ruben Sprich
«Ein Weckruf an die heutige Gesellschaft»
Erinnerung an Zwangsmassnahmen im Kanton Bern
«Zeichen der Erinnerung», kurz: «Zeder», heisst die Kampagne des Kantons Bern, welche bis 24. Juni an die Zeit fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erinnert. Den Auftakt machten die Plakatausstellung und Gedenkfeier am 25. Mai im Schloss Köniz.
Hannah Einhaus
Ob sie ihren Peinigern aus der heutigen zeitlichen Distanz vergeben können? Ursula Biondi, Ursula Waser und Alfred Ryter, die an diesem sonnigen Nachmittag im Schloss Köniz auftreten, wurden als Kinder ihren Familien entrissen und bei Pflegefamilien «fremdplatziert» oder unter dem Vorwand von «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» in Anstalten gesteckt.
Ursula Biondi, die Jahre im Gefängnis Hindelbank verbrachte, ohne je ein Verbrechen begangen zu haben, schüttelt dezidiert den Kopf: «Nein, vergeben kann ich nicht. Was damals geschah, war nicht ein Unrecht, sondern ein Verbrechen.»
Jahrzehntelang habe sie ihre Vergangenheit verstecken müssen, denn Zwangsmassnahmen im Lebenslauf verhinderten Ausbildungen und den Aufstieg auf der Karriereleiter. Dass sie es in Genf dennoch sehr weit brachte, sei nur durch das Verschweigen der eigenen Geschichte möglich gewesen. Nach ihrem ersten «Outing» im Jahr 2000 sei sie gemobbt worden, «ein Zeichen, dass viele zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit waren, die Folgen von Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zu erkennen.»
Auch Ursula Waser, die als «Kind der Landstrasse» ihren jenischen Eltern weggenommen wurde, schüttelt bei der Frage nach Vergebung den Kopf, und Alfred Ryter, der mit siebeneinhalb Jahren vom Vater den Vormundschaftsbehörden überreicht wurde und auf einem Bauernhof während Jahren fror, hungerte und Schläge ertrug, leidet noch heute mit 83 Jahren unter Depressionen.
Dezentrale Aktivitäten in 166 Gemeinden
Ursula Bondi, Ursula Waser und Alfred Ryter haben trotz ihrer traumatischen Erfahrungen die Kraft gefunden, über ihre Erfahrungen öffentlich zu sprechen. Sie sind, zusammen mit Heinz Kräuchi und Christian Studer, heute nicht nur wichtige Zeitzeugen, sondern konnten auch für den Beirat jenes Projekts gewonnen werden, das an diesem sonnigen Nachmittag in Köniz seinen Auftakt findet: das Berner «Zeichen der Erinnerung», kurz «Zeder», eine Plakatausstellung, die von rund 166 Berner Gemeinden und Kirchgemeinden bis 24. Juni gezeigt wird, ergänzt von einer Reihe von Veranstaltungen.
Dazu gehören die Einweihung von Erinnerungstafeln, Begegnungen mit Betroffenen sowie Lesungen und Filmabende. Erarbeitet wurden im Weiteren Unterrichtsmaterialien für Schulen. «Es muss ein Weckruf an die heutige Gesellschaft sein», sagt Ursula Bondi, «damit das nie wieder passiert.»
Schweizweit wurden seit dem 19. Jahrhundert wohl Hunderttausende Kinder und Jugendliche verdingt, in Heimen versorgt oder in Anstalten weggesperrt. Der Kanton Bern war dabei überproportional vertreten. Bis 1980. Die Erinnerung daran kann schmerzen, doch sie kann auch helfen zu heilen. Diese Überlegung führte den Berner Grafiker Claude Kuhn zum «Zeder»-Signet des Reissnagels: Er kann ebenfalls Schmerz auslösen, aber auch hilfreiches Werkzeug sein.
«Wir lernen dank Ihnen»
«Nie wieder» war einst auch die Motivation einer grünen Grossrätin, als sie im Jahr 2006 einen Vorstoss einreichte, um diese Geschichte der Fremdplatzierungen und fürsorgerischen Zwangsmassnahmen im Kanton Bern aufzuarbeiten. Der damalige Regierungsrat plädierte, die Motion abzulehnen, der Grosse Rat überwies den Vorstoss als Postulat. Staatsschreiber Christoph Auer wies an der Gedenkfeier in Köniz verschmitzt darauf hin, dass die damalige Grossrätin keine andere war als die heute Regierungsrätin Christine Häsler. Mit den Worten «wir lernen dank Ihnen, das ist ein Geschenk», bedankte sich Häsler in ihrer Ansprache bei den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. «Wer der Zukunft gerecht werden will, muss sich der Vergangenheit stellen. Der Kanton Bern ist bereit dazu.»
Dass der Auftakt von «Zeder» im Schloss Köniz stattfand, war kein Zufall, den auch dort war jahrzehntelang ein Heim untergebracht. Dessen Geschichte sei noch bei weitem nicht aufgearbeitet, befand die Könizer Gemeindepräsidentin und Gastgeberin Tanja Bauer in ihrer Rede. Die Leiden, die Fremdplatzierungen und Zwangsmassnahmen zur Folge hatten, machten sprachlos, und sie sei froh um «Zeder». «Das Projekt gibt die Möglichkeit, Respekt und Würde anzubieten, gemeinsam hinzusehen und gemeinsam Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.»
Infos zu Veranstaltungen, beteiligte Gemeinden, Plakatinhalte und Unterrichtsmaterial: www.zeichen-der-erinnerung-bern.ch
Video des Kantons mit den Betroffenen des Beirats