Die Marienkirche in Bern mit dem Klimatransparent. Foto: Jonathan Liechti

Ein Weckruf kurz vor zwölf

05.06.2020

Der Klimakirchturm im Berner Wylerquartier.

Die Kirchen im Berner Nordquartier fordern in Kooperation mit jungen Klima-Aktivistinnen massive Verhaltensänderungen gegen den Klimawandel. Deshalb prangt am Turm der Marienkirche ein riesiges Transparent mit der Botschaft «Wake up».

Von Christina Burghagen

Aus den Vorgärten der Wylerstrasse weht ein Duft von Grillwürstchen. Nach Wochen voller Pandemie-Sorgen vermeint man an diesem Frühlingstag etwas aufatmen und geniessen zu können. Es ist Pfingstsonntag 2020 in der Mittagszeit, mit blauem Himmel und T-Shirt-Temperaturen. Nach und nach trudeln Menschen in den Innenhof der katholischen Kirche St. Marien und beäugen interessiert die kleinen Plakate, die schon an Wäscheleinen und am Tor baumeln oder gerade noch den letzten Pinselstrich erhalten.

Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass es eine Minute vor zwölf ist, um den Klimawandel, der schon längst weltweit zu spüren ist, wenigstens zu mässigen. So sollen nicht nur kleine Plakate mahnen und kritisch hinterfragen. «Flugreisen sind kein Menschenrecht» oder «… und sobald die Schweiz direkt betroffen ist, wird gehandelt …», was auf die drastischen Massnahmen gegen das Corona-Virus anspielt, ist beispielsweise zu lesen. Um eine Minute vor zwölf Uhr soll sich also der Turm neu einkleiden.

Tiefe Töne vom hohen Turm

Rund drei Dutzend Menschen haben sich inzwischen vor der Kirche versammelt, und ihre Köpfe in den Nacken gelegt. Sie verfolgen die Kletterer, die sich oben am 41 Meter hohen Kalksandsteinturm postiert haben. Ein Musiker spielt Tuba auf dem Glockenturm. Stücke wie «Auf in den Kampf …» aus Bizets «Carmen» oder der Jägerchor aus Beethovens Freischütz muten etwas kämpferisch an. Stück für Stück wird das riesige Transparent entrollt und gibt den Schriftzug «Wake up» frei. Bei dieser symbolischen Handlung des Entrollens wird auf den Ursprung des Pfingstfestes angespielt, der im Schawuot zu finden ist. Das jüdische Wochenfest feiert den Empfang der Tora mit den zehn Geboten, den Bund mit Gott und gleichzeitig die Ernte, die Gottes Schöpfung ihnen schenkt. Das einzige Gebot des Transparents im übertragenen Sinne lautet also: Wach auf!

Der Weckruf soll bis in den Sommer schon aus der Ferne mahnen, wie dringend es ist, durchschlagende Massnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen. Er ist von Weitem am hohen Kirchturm zu sehen. Dazu abgebildet ist die Flamme als Zeichen der Klimabewegung – sie schafft die Verbindung zum Pfingstgeist, der wie ein Feuer über die Menschen gekommen sei. «Auch heute müssen die Menschen aufwachen und mutig Neues in Angriff nehmen, um eine lebenswerte Zukunft möglich zu machen», betonen die Begründer*innen der Aktion.

Gegen die absurde Normalität

Das Virus mit unterschiedlichsten Massnahmen entschieden zu bekämpfen, sei ja auch möglich, wie die letzten Wochen gezeigt hätten, stellt Manfred Ruch, Gemeindeleiter der Marienpfarrei, fest. Es sei höchste Zeit, den Klimawandel genauso entschieden zu bekämpfen. Die Gefahr, die vom Klimawandel ausgehe, sei noch grösser als jene des gemeingefährlichen Corona-Virus. Deshalb schlossen sich die reformierte Markus- und Johannesgemeinde und die katholische Pfarrei St. Marien im Nordquartier zusammen, um gemeinsam mit Klimajugendlichen dieses Zeichen zu setzen.

Pfarrer Jürg Liechti von der Johanneskirche zeigt sich begeistert von dem Engagement der jungen Menschen, die uns mit unserem Tun konfrontieren. Ihre Aktion zusammen mit den Kirchen des Nordquartiers soll darauf hinweisen, dass es so nicht weitergehen kann. Mit prägnanten Worten fasst der Flyer zusammen, was gerade passiert: «Gewohnheiten wackeln und werden eingeschränkt. Corona zeigt die Absurdität unseres Lebensstils. Was bisher als ‹normal› gilt, entpuppt sich als zerstörerisch und menschenverachtend. Unser Lebensstil führt zur Klimaveränderung und zum Artensterben. Es zerstört unsere Lebensgrundlage, und fördert Pandemien wie die Coronakrise.»