Die indigenen Völker kennen und bewahren die Biodiversität des Amazonas – auch ohne «Laudato Sì». Foto: Keystone, Mauricio Dueñas Castañeda

Ein Wendepunkt in der Kirche?

01.10.2019

Öko-Theologe Leonardo Boff zur Amazonas-Synode

Nach «Laudato Sì» richtet Papst Franziskus den Fokus auf die Bedeutung des Amazonas für unsere Zukunft. Das riesige Gebiet ist auch für neue Wege in der katholischen Kirche Vorreiter. Wir dürfen gespannt sein, welche der Anliegen ein Umdenken und Handeln anstossen werden.

Autor: Leonardo Boff

Seit 2015, der Veröffentlichung der Enzyklika «Laudato Sì», zeigt sich Papst Franziskus mehr und mehr besorgt um die Zukunft des Lebens und gar der Erde. Die Enzyklika selbst, deren Untertitel die Absicht des Papstes aufzeigt – über die Achtsamkeit des gemeinsamen Hauses –, ist an die ganze Menschheit gerichtet und nicht, wie gewöhnlich, nur an Katholik*innen. In der Enzyklika und in seinen Reden verlangt Papst Franzikus eine «radikale ökologische Bekehrung», wenn wir ökosoziale, verhängnisvolle Katastastrophen vermeiden wollen. Er ist sich bewusst, wie wichtig das Ökosystem Amazonien für das Gleichgewicht der Erde ist, besonders für die Bewahrung der ganzen Biosphäre.

Als Folge und konkrete Anwendung der vielfältigen Prinzipien von «Laudato Sì» in einem spezifischen Gebiet hat der Papst eine Synode für Amazonien einberufen. Sie soll nicht in Südamerika stattfinden, sondern in Rom, damit alle die Auseinandersetzungen und Ergebnisse begleiten können. Sie bietet auch eine Chance, dass die Menschen aller Welt ein ökologisches Bewusstsein entwickeln können, da die Erde mehrfach gravierend bedroht ist.

Grosses Ökosystem

Der Amazonas allein beinhaltet ein Sechstel bis ein Fünftel des weltweiten Flusswassers, das in die Meere mündet. Das Ökosystem Amazonien hat eine Ausdehung von gut acht Millionen Quadratkilometern und umfasst die neun Länder Brasilien, Peru, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Venezuela, Surinam, Guinea und Französisch-Guinea. Insgesamt leben dort knapp 39 Millionen Menschen. Davon sind knapp drei Millionen Indigene aus 390 Völkern mit 240 Sprachen.

Nebst dem wasserführenden Amazonasstrom gibt es zwei weitere Flüsse. Jeder Baum von 20 Metern Höhe produziert 1000 Liter Feuchtigkeit. So entsteht der sogenannte «fliegende Fluss», der bis nach Argentinien getragen wird und den Regen reguliert. Zudem fliesst tief unter der Erdoberfläche ein dritter Amazonasstrom, der Rio Hamza – eine gigantische Grundwasserströmung.

Wir verdanken dem Amazonassystem vier grosse Gaben: den Zyklus der Gewässer, den CO2-Zyklus, die Biodiversität und die Klimaregulierung der Erde. Alle vier können nur weiterbestehen, sofern der Amazonas-Urwald nicht gerodet wird. Sonst gibt es kein Zurück.

Zum Amazonaskomplex gibt es drei Auffassungen zu korrigieren. Der Amazonas ist nicht wild. Die Amazonas-Indigenen haben in einem komplizierten Netz der Gegenseitigkeit mit der Natur ihre eigene Kultur entwickelt. Sie erleben die Natur als Teil ihrer Gesellschaft und Kultur, als Erweiterung ihres persönlichen und sozialen Körpers. Des Weiteren ist der Amazonas-Urwald nicht die Lunge der Erde. Der Sauerstoff, den die Pflanzen durch Photosynthese tagsüber freigeben, wird nachts wieder «eingeatmet». Trotzdem produziert der Regenwald 20 Prozent des weltweiten Sauerstoffs. Der Amazonas kann zudem auch nicht als Kornspeicher oder Brotkorb der Welt gelten. Der Urwald ist zwar üppig, aber der Boden ist humusarm. Nach drei Ernten bildet sich Sand.

Unter der aktuellen Regierung des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro wird derzeit ausdrücklich ein Krieg gegen die indigenen Völker geführt, gegen unschuldige Bauern und gegen das ganze Ökosystem, das auf über 130 000 km2 verbrennt. Auf die weltweite Empörung antwortet Bolsonaro mit unwürdigen Ausdrücken gegen Staatspräsidenten, ohne Sinn für Ehre, Erziehung und die Würde seines offiziellen Amtes. Er benimmt sich wie ein Verrückter und ist eine grosse Schande für Brasilien. Es gibt viele Juristen, die Bolsonaro wegen Verbrechen gegen die Menschheit vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bringen möchten. Der Amazonas ist ein Gemeingut der Erde und der Menschheit. Brasilien verwaltet ihn sehr unverantwortlich. Wer die gefährliche Situation der Erde erkennt, ist deshalb zu Recht in Sorge.

Was tut die Kirche?

Wie ist die katholische Kirche im Amazonasgebiet vertreten? Das Gebiet umfasst 2166 Pfarreien und Hunderte christliche Basisgemeinden, 21 660 Katechet*innen, 4454 Ordensschwestern, 2057 Ordensbrüder, 418 ständige verheiratete Diakone und 3828 Diözesan- oder Ordenspriester, 95 kirchliche Bezirksgebiete, 154 Bischöfe oder Prälaten, davon 44 aus dem Amazonas selbst (28,5 Prozent).

Für die Amazonas-Synode wurde ein Arbeitspapier erarbeitet. Im ersten Teil – «Die Stimme Amazoniens» – steht die Wiedergewinnung von altem Wissen und der Weisheit der indigenen Völker im Zentrum. Es wird stark betont, dass diese Völker in vollkommenem Einklang mit der Natur leben, dass sie den «Herzschlag des Weltalls» spüren. Sie sind «unsere Meister und Lehrer», denn sie kennen die Rhythmen der Natur genau, hegen einen tiefen Respekt allem gegenüber und beherrschen die Kunst, die Biodiversität zu kennen und zu bewahren.

Im zweiten Teil – «Ganzheitliche Ökologie: der Schrei der Erde und der Armen» – führt das Papier die Richtlinien von «Laudato Sì» fort. Man dürfe das Amazonasgebiet nicht weiter als unerschöpflichen Rohstofflieferanten missbrauchen und die Einheimischen übergehen. Vielmehr solle man den Amazonas-Urwald wie am ersten Tag der Schöpfung betrachten.

Im dritten Kapitel «Neue Wege für die Kirche» wird ausdrücklich betont, dass es eine grosse Herausforderung sei, in Amazonien eine Kirche mit amazonischen Merkmalen aufzubauen, welche die Kultur, Sprache, Gebräuche und Feierlichkeiten der verschiedenen Ethnien ernst nehme. Wann und wo auch immer Liebe, Solidarität, Vergebung, Achtsamkeit und andere Werte gelebt werden, sei der Heilige Geist am Werk.

Im Papier steht der Dachbegriff Synodalität dafür, dass Laien, Männer und Frauen, Priester, Ordensleute, Bischöfe und auch der Papst zusammen gehen. Die Synodalität entspricht in der kirchlichen Lehre dem Volk Gottes, zu dem alle gehören. Die Ausformung eines amazonischen Gesichts der Kirche bringt Einflüsse in die verschiedenen Dienste, in die Liturgie und Theologie, weil – wie Papst Franziskus in Puerto Maldonado (2018) in Peru festhielt – die indigene Weltanschauung mit ihrer alten Weisheit und Spiritualität zu neuen Zügen der Kirche beisteuere. Die indigene Religiosität der bunten Ethnien bilden die Basis für die Theologie des religiösen lateinamerikanischen Pluralismus, der ein Impuls der Befreiungstheologie ist.

Bewährte Laien am Altar

Als letzte Frage unter vielen anderen soll die Priesterweihe von «viri probati», verheirateten Laien, behandelt werden. Im Amazonasgebiet bereiten die grossen Distanzen Probleme. Christ*innen haben das Recht, das Sakrament der Eucharistie zu bekommen, wie es das II. Vatikanische Konzil (1962–65) unterstrichen hat. Aber es fehlt an Priestern, obwohl viele kirchliche Basisgemeinden bunte Liturgien vorbereiten und den Menschen die Bibel näherbringen. 70 Prozent der Gemeindeleiter*innen machen alles, was ein Priester macht. Warum dürfen sie nicht, unter dem Gesetz der «supplet Ecclesia» und als ausserordentliche Minister*innen, das Sakrament der Eucharistie feiern? Papst Franziskus hat die Möglichkeit, dass diese Männer, besonders verheiratete Indianer, zum Priester geweiht werden können, zur Diskussion gestellt.

Obwohl der Papst sagte, an der panamazonischen Synode gehe es viel mehr um die Ökologie und um die Zukunft des Amazonasgebiets als um Fragen der Kirche, bin ich fest davon überzeugt, dass verheiratete Indianer zum Priester geweiht werden sollten. Dies ist schon lange eine Bitte der meisten amazonischen Bischöfe an Rom. Es gibt keine Dogmen und theologischen Lehren, die verbieten, dass das klerikale Zölibatsgesetz aufgehoben werden kann.

Wir wissen aus der Kirchengeschichte, dass im ersten Jahrtausend folgendes Gesetz galt: Wer die Gemeinde leitet (ein tugendhafter verheirateter Laie oder ein Priester), konsekriert die Eucharistie. Im zweiten Jahrtausend, als die «sacra potestas» (die heilige Macht) als Grundstruktur der institutionellen Kirche galt, lautete das Gesetz, dass der geweihte Träger der «sacra potestas» (Priester oder Bischof) der einzige sei, der konsekrieren dürfe.

Heute wird in verschiedenen Basisgemeinden, wo kein Priester ist, das Mahl des Herrn («coena Domini», 1. Korintherbrief) gefeiert, in Verbindung mit der offiziellen Kirche und der Überzeugung, dass der Herr unter den materiellen Elementen sakramental anwesend ist.

Im panamazonischen Arbeitspapier heisst es auch, es müsse ein offizieller Dienst in der Kirche für Frauen festgelegt werden, wegen der zentralen Rolle, die sie schon heute in der amazonischen Kirche spielen. Welcher offizielle Dienst das sein könnte, bleibt offen: Diakonissen oder Priesterinnen? Der österreichische Bischof Erwin Kräutler, persönlicher Freund des Papstes, war 25 Jahre lang Bischof von Xingu, der grössten Diözese Brasiliens (so gross wie die Schweiz). Er plädiert für die Ordination der Frauen. Statt von «viri probati» zu sprechen, zieht er «personae probatae» vor, damit auch Frauen mitgemeint sind. Er argumentiert, dass in seiner Diözese die Leiterinnen der Basisgemeinde alles machen, was ein Priester macht. Warum also dürften sie nicht auch geweiht werden? Maria als Frau und Mutter hat den Sohn Gottes auf die Welt gebracht. Warum darf sie ihn nicht im Sakrament repräsentieren?

Ich hoffe, dass Papst Franziskus mit seinen Anliegen mitten im Urwald, weit weg von allen Hindernissen und in voller Freiheit des Geistes, etwas Neues in der Kirche einführen kann. Dies wäre ein notwendiger Schritt, damit die Kirche tatsächlich in das neue Jahrtausend eintreten kann. Er unterstützt neue Wege für die Kirche, angefangen am Rand bzw. im tiefen, grossen Amazonas-Urwald. Hier ist der Ort, wo etwas Ungewöhnliches, aber nicht Unmögliches für die globalisierte Weltkirche geschehen kann.

 

 

 

 

Leonardo Boff ist einer der bekanntesten Befreiungstheologen. Er ist Buchautor und ehemaliger Franziskaner. Im Kampf gegen Armut unterstützt und leitet er Projekte für Obdachlose, Strassenkinder und Landlose. Der bald 81-jährige «Öko-Theologe» ist ein engagiertes Mitglied der christlichen Basisgemeinde in Brasilien und lebt im ökologischen Reservat Jardim Araras bei Petrópolis.