Sozialarbeiter Robert Sans will in der Notschlafstelle «Pluto» niemanden erziehen oder die Jugendlichen «überzeugen, was angeblich für sie das Beste ist.»Foto: Klaus Petrus
Ein Zuhause auf Zeit
Eine Notschlafstelle für Jugendliche und junge Erwachsene
Obdachlosigkeit, Drogenkonsum, Gewalt und unhaltbare familiäre Verhältnisse. Die Gründe für die Nutzung der Notschlafstelle Pluto für Jugendliche bis 23 Jahre sind vielfältig – und erschreckend.
von Klaus Petrus
Schon immer sei ihr Vater aufbrausend gewesen, auch jähzornig und unberechenbar, sagt Bianca W.* und bringt wie zur Erklärung ihre Hand zum Mund. «Doch der Alkohol hat alles schlimmer gemacht. Erst ging er auf meine Mutter los, dann schlug er auch mich.»
Damals war Bianca, in Burgdorf aufgewachsen, gerade 14 geworden und blieb öfter mal von zu Hause weg, sie schlief bei Freundinnen oder bei der Schwester ihrer Mutter. Heute wohnt sie fest bei der Tante in Bern. Ihre Mutter sieht sie regelmässig, den Vater gar nicht mehr. Sie habe alles versucht, ihm zwischendurch sogar verziehen – bis er ihr zu nahekam, sie bedrängte. Mehr möchte Bianca dazu nicht sagen.
Das letzte dreiviertel Jahr sei das Schlimmste ihres Lebens gewesen, sagt die heute 16-Jährige. «Ich war mal hier, mal dort, tingelte von Sofa zu Sofa, ich schlief sogar draussen, im Park oder in der Badi. Irgendwann erfuhr ich von «Pluto», einer neuen Notschlafstelle in Bern. Ich ging hin, stellte mich vor, sagte, ich wisse nicht wohin. Sie gaben mir ein Zimmer, ich blieb eine Weile und hatte endlich ein bisschen Ruhe in meinem Kopf.»
Sichere Träume
«Häusliche Gewalt ist in vielen Biografien unserer Nutzer:innen ein Thema», sagt Sozialarbeiter Robert Sans. «Dazu kommen akute Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit sowie Ausschlüsse aus stationären Wohnsettings oder Kollektivunterkünften.» Der 39-Jährige gehört zum Team der Notschlafstelle «Pluto», einem Haus am Stadtrand von Bern mit insgesamt sieben Betten. Hinter der Notschlafstelle steht der Verein «Rêves sûrs – Sichere Träume», eine Kooperation von Fachpersonen aus dem Jugend- und Obdachlosenbereich.
Das 2022 lancierte Projekt ist zunächst auf drei Jahre befristet; es wird von Stiftungen, Privaten sowie Kirchen, auch der katholischen, finanziert und bietet Jugendlichen wie Bianca möglichst niederschwellig Schutz und Beratung an. Ein vergleichbares Angebot gibt es in der deutschsprachigen Schweiz nur noch in Zürich, das «Nemo».
Weil die Notschlafstelle Personen bis 23 Jahre aufnimmt, geriet sie unlängst in Kritik. Der Vorwurf: «Pluto» würde auch Leuten Unterschlupf bieten, die schon in einer sozialen Struktur eingebettet seien oder für die es bereits Angebote gebe – Notschlafenstellen für Erwachsene, Heime, betreutes Wohnen, das Arbeitslosenvermittlungszentrum, Asylunterkünfte oder ähnliches. Deshalb sei «Pluto» weitgehend überflüssig, gravierender noch: Die Notschlafstelle schaffe eine Art Parallelstruktur zu bestehenden Institutionen.
Kein Ausweis nötig
Robert Sans weist diese Kritik von sich. «Dass es Leute gibt, die sich nicht in die Strukturen bestehender Angebote pressen lassen oder die aus diesen Strukturen fallen, weiss man nicht erst, seit es ‹Pluto› gibt. Dann stellt sich die Frage: Haben diese Menschen kein Anrecht auf einen sicheren Schlafplatz und die Abdeckung ihrer Grundbedürfnisse?
Fakt ist: Gäbe es ‹Pluto› nicht, wären manche dieser Menschen ganz ohne Hilfe.» Tatsächlich geht es bei dieser Kritik nicht so sehr um die Frage, ob eine Notschlafstelle wie «Pluto» ein Angebot für Leute bereitstelle, die auch anderweitig Hilfe bekämen. Worum es eigentlich geht, ist die Art, wie «Pluto» arbeitet, nämlich: möglichst niederschwellig.
Für Robert Sans ist klar: Diese Niederschwelligkeit ist im Bereich von Notschlafstellen für Jugendliche zumindest in der Region ohne Alternative. «Deshalb schaffen wir keine Parallelstruktur, sondern schliessen eine Lücke.» Im Falle von «Pluto» heisst Niederschwelligkeit, dass die Jugendlichen keinen Ausweis zeigen müssen, sie brauchen nicht aus Bern zu sein, müssen keine Kostengutsprache haben, sie können während der Öffnungszeiten – jede Nacht zwischen 18.00 und 09.00 – kommen und gehen, wann sie wollen, auch dürfen sie ihre tierischen Begleiter bei sich haben.
Dass es ganz ohne Schwellen geht, hält Robert Sans jedoch für utopisch. «Auch wir haben unsere Hausordnung, an die man sich halten muss – kein Drogenkonsum im Haus, zum Beispiel –, im Normalfall darf man nicht länger als drei Monate bleiben, und es sollte die Altersgrenze eingehalten werden.» Ausserdem koste es Überwindung, sich an einen fremden Ort zu begeben und seine Vulnerabilität offenzulegen.
Häufig ausgebucht
Unlängst haben die Sozialarbeitenden im «Pluto» begonnen, die Jugendlichen nach einem Dokument zu fragen, welches ihr Alter bestätigt. Davor sei es vorgekommen, dass sich manche jünger ausgegeben haben, als sie sind. Weil die Notschlafstelle häufig ausgebucht ist – voriges Jahr waren es bis November 1130 Übernachtungen –, will man gewährleisten, dass in erster Linie Jugendliche im fürs «Pluto» vorgesehenen Alter zwischen 14 und 23 vom Angebot profitieren können.
Nicht alle Jugendlichen sind sich diese Niederschwelligkeit gewohnt. «Als ich ins ‹Pluto› kam, habe ich mich darüber gewundert, dass niemand meinen Ausweis sehen wollte», erzählt Bianca W. «Hier war alles ganz unkompliziert. Meine Erfahrungen wurden nicht in Frage gestellt. Ich wurde gefragt, was ich brauche und wie ich mich sicher fühlen würde. Dann haben die Mitarbeitenden mit meiner Beiständin geschaut, dass ich bis auf Weiteres hier sein durfte.»
Niemand wird verurteilt
Dass Niederschwelligkeit eine gewissen Eigeninitiative verlangt und für manche Jugendliche eine Herausforderung bedeuten kann, dem stimmt Robert Sans zu . Doch sie stelle auch Ansprüche an die Soziale Arbeit. «Wir arbeiten nach dem Prinzip der akzeptierenden Grundhaltung, was uns sehr wichtig ist. Wer zu uns kommt, wird nicht verurteilt, auch wollen wir diese Person nicht ‹erziehen› oder sie davon überzeugen, was angeblich für sie das Beste ist, sondern wir heissen sie willkommen so, wie sie ist.
Andernfalls könnten wir unser vordergründiges Ziel, einen Schutzraum zu bieten, wo man sich wohl und sicher fühlt, gar nicht erreichen.» Natürlich gebe es auch hier Grenzen, fügt Robert Sans an. In Fällen von akuter Suizidalität, Gewalt gegen Mitbewohner:innen oder Mitarbeitende etwa ziehe auch «Pluto» eine rote Linie. Und bei Minderjährigen würden je nachdem die obhutsberechtigten Personen oder die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB über den Aufenthaltsort oder die Gefährdung des/der Nutzer:in informiert.
«Aber selbst dann vertreten wir einen klar anwaltschaftlichen Ansatz, sind vollkommen transparent und handeln im Interesse der jungen Personen, die das ‹Pluto› aufsuchen – auch das unterscheidet uns von anderen Institutionen und hier vermögen wir eine Lücke zu füllen.»
«Hätte ich nur früher davon gewusst…»
Doch dafür müssen die Jugendlichen zuerst einmal wissen, dass es «Pluto» gibt. Tatsächlich sei Informationsarbeit das A und das O, sagt Robert Sans. «Deshalb versuchen wir, die Leute in ihrer Lebenswelt zu erreichen: über die sozialen Medien, über Fachpersonen im Jugend- und Obdachlosenbereich, aber auch über Freund:innen und Angehörige.»
Auch Bianca W. erfuhr über eine Bekannte von der Notschlafstelle. Davor schlief sie öfter mal auf dem Sofa von Freundinnen oder Bekannten – aber nie allzu lange an einem Ort. Sie habe sich geschämt und wollte niemandem zur Last fallen oder sich zusätzlich von jemandem abhängig machen, sagt Bianca. «Hätte ich von ‹Pluto› gewusst, wäre ich früher dort aufgekreuzt.»
* Name geändert
Die Notschlafstelle «Pluto» in Bern ist jede Nacht von 18.00 bis 09.00 geöffnet und bietet Jugendlichen und jungen Erwachsenen aller Geschlechter im Alter von 14 bis 23 Jahren in Notsituationen kostenlos Obdach, Schutz und Sicherheit. Bei Bedarf erhalten die Jugendlichen eine Sozialberatung von Fachpersonen der Sozialen Arbeit. Infos: https://pluto-bern.ch, 078 247 24 44.