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Eine Blume, die kein Wasser braucht
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Eine ältere Frau kam ins Spital, um geheilt zu werden. Es kam anders. Trotzdem wirkt alles friedlich. Die Tochter ist da, ein Rosenkissen liegt auf dem Bett, der Kopf der Patientin ruht darauf, eine grüne Fransendecke liegt über dem müden Körper. Nur die rote Blume auf dem Tisch beim Fenster ist teilweise welk und trübt das Bild. Braucht sie Wasser?
Die Tochter sieht meinen Blick. Das sei eine Blume, die kein Wasser brauche. Bei genauerem Hinsehen entdecke ich ganz unten einen frischen, neuen Trieb. Die Blume habe sie ihrer Mutter vor dem Spitaleintritt geschenkt, als alle glaubten, sie kehre wieder heim. Ihre Mutter habe jetzt gewünscht, die Blume hier bei sich zu haben.
Die Tochter erzählt von früher und von der Zeit vor dem Spitaleintritt. Es ist kein ruhiges Leben, das hinter der Patientin liegt. Viel Zerrissenheit, ein anstrengendes Dasein zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen, aber ein starker Zusammenhalt in der Familie.
Der Kissenbezug mit den Rosen ist neu. Die Tochter hat ihn ihrer Mutter ins Spital gebracht. Die grüne Fransendecke dagegen ist uralt. Sie gehörte der Grossmutter, hat Kriege überstanden, ist weit gereist. Jetzt liegt sie da, als hätte sie nie woanders gelegen. Der Kissenbezug, die Decke – Verbindungen von Generationen und Kulturen.
Die Tochter macht einen Bogen von der Blume, die kein Wasser braucht, zu ihrer Mutter, die seit heute keine Flüssigkeit mehr zu sich nimmt. Das sei ein Schock gewesen und habe Angst gemacht. Nach einem Arztgespräch konnte sie den Entscheid aber nachvollziehen. Die rote Blume, die ohne Wasser auskommt und trotzdem Neues hervorbringt, spendete Trost.
Jetzt geht es um Glaubensfragen, um Bedeutung, um Sinn, über kulturelle und religiöse Zugehörigkeiten hinweg. Unser gemeinsamer Nenner: Es gibt mehr, als wir sehen oder in Worte fassen können. Die Tochter macht mich auf die Bewegungen aufmerksam, mit denen ich meine Ausführungen unterstreiche, waagrechte und senkrechte Armbewegungen. Mit den waagrechten weise ich auf das hin, was wir sehen – die Decke, die Blume, den Kissenbezug, die sterbende Mutter; mit den senkrechten deute ich an, was wir nicht sehen können. Wie ein Kreuz, findet die Tochter ... und lächelt. Das sei ein tröstliches Bild. Auch für sie.
Nadja Zereik, Seelsorgerin im Inselspital