Wir sprechen zwar verschiedene Sprachen, diese haben aber gemeinsame Wurzeln. Foto: fotolia

Eine Brücke schlagen über den Tigris

11.05.2016

Der Benediktiner Leo Fischer auf der Suche nach der Sprache vor der babylonischen Sprachverwirrung.

«Alle Menschen hatten die gleiche Sprache ... Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an ... Sie bauten eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel ... Dem Herrn missfiel ihr Tun und er zerstreute sie von dort über die ganze Erde ... Darum nannte man die Stadt Babel (Wirrwarr), denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt ...» (Genesis 11,1–9)


Der Benediktiner Leo Fischer
(1855–1895), Professor für Sprachen und Geschichte am Kollegium in Sarnen, war von der biblischen Geschichte der babylonischen Sprachverwirrung fasziniert; er wollte als sprachbegabter Theologe der «Ursprache» vor dieser Sprachverwirrung nachgehen.
Pater Leo Fischer studierte deshalb die europäischen und semitischen Sprachen. Lateinisch, Griechisch, Gotisch, Aramäisch und Hebräisch kannte er bereits aus seinem Studium der Theologie und Literatur. Er verfasste eine Grammatik des Syrischen, des Arabischen, ja sogar eine der altindischen Sprache, des Sanskrit. Und – erstaunlich: Er beschäftigte sich sogar mit der Keilschrift, dem ältesten überlieferten Schriftsystem. Die Keilschrift entstand im 3. Jahrtausend v. Chr. in Süd-Mesopotamien.

Es ist die Zeit der ersten Stadtstaaten im baylonischen Reich. Die dort angesiedelten Sumerer konnten durch Anlegen von Kanälen die babylonische Ebene bewässern und das Land so fruchtbar machen, dass Weizen, Gerste und Gemüse angebaut werden konnten. Die Archäologen sprechen von der «neolithischen Revolution», bei der vom Hirtentum der Nomaden zur Sesshaftigkeit und zum Ackerbau übergegangen wurde. Die biblische Geschichte von Kain und Abel thematisiert diese Problematik: Kain der (moderne) Ackerbauer, Abel der (nomadenhafte) Hirte. Im Verlaufe des 3. Jahrtausends v. Chr. drängten sich immer mehr (semitisch sprechende) Nomaden in die von den Sumerern bewohnten Gebiete Mesopotamiens und brachten eine andere Sprache mit, das Akkadische.

Im 2. Jahrtausend eroberten die Hethiter Kleinasien und Nordsyrien und gründeten ein grosses Reich. Die Hethiter sprachen wieder eine andere Sprache, die dem Indogermanisch zuzuordnen ist (Hethitisch). Leo Fischer wusste um diese historische Tatsache und wollte nun diesen verschiedenen vorderorientalischen Sprachen nachgehen und ihre «Gemeinsamkeiten» finden. Er schrieb eine sensationelle wissenschaftliche Arbeit über Keildie semitisch-indogermanische Sprachverwandtschaft. Semitische Sprachen sind Akkadisch, Aramäisch, Hebräisch und Arabisch (Hamitisch). Fast alle europäischen Sprachen sowie das Hethitische und Indische gehören zur indogermanischen oder indoeuropäischen Sprachgruppe.

Fischer erforschte die Wortgeschichte und die Etymologie der für die Kulturgeschichte der frühen biblischen Zeit, vor allem des 2. Jahrtausends, aufschlussreichen Bezeichnungen (die er teilweise auch aus Keilschriften kannte) wie König, Hirt, Mühle, Rad, Nagel, Holz, Feuer, Wasser, Schiff, Mass, Kamelie, Horn, Wein. Ein Beispiel: Das deutsche Wort Wein (italienisch vino) lässt sich auf die frühsemitische Wurzel *wajno und die hethitische *wijana zurückverfolgen. (Das Sternchen bedeutet eine erschlossene Form.) Er suchte in den Wurzelstämmen indogermanische und semitische Parallelen und fand sie in «der jetzt noch erkennbaren und manchmal recht auffälligen Gemeinsamkeit so vieler Wurzeln indogermanischer und semitischer Wörter».
Diese Sprachstudie erinnert an eine neuere Untersuchung des Max-Planck-Institutes für Psycholinguistik (von 2012), die anhand von vergleichenden Wortstudien aus alten und neuen europäischen Sprachen zur Annahme kommt, dass im vordern Orient der Ursprung der indogermanischen Sprache ist.

Auch Fischer kam schon im späten 19. Jahrhundert zu diesem Ergebnis, bezog aber erstaunlicherweise neben den indogermanischen Sprachen auch noch die semitischen Sprachen in seine Untersuchungen ein. Aufgrund gemeinsamer Wortwurzeln weist er viele Analogien im Indogermanischen und Semitischen nach, die auf einen regen Handel und Kulturaustausch hinweisen.

Der geniale Benediktiner versuchte als Theologe und Sprachwissenschafter anhand der vorderorientalischen Sprachen die «Ursprache » vor der baylonischen Sprachverwirrung ausfindig zu machen. Er wollte – heute wieder besonders aktuell – mit seinen Studien «eine Brücke schlagen über den Tigris, eine Brücke, auf welcher die getrennten Sprachen der Arier (Indoeuropäer) und Semiten einander begegnen und sich wiedererkennen als Geschwister aus dem noachischen Vaterhause».

Angelo Garovi
Der Autor war Linguistik-Professor an der Universität Basel.