Die meerschaumweisse St. Ursen-Kathedrale prägt seit 250 Jahren das Erscheinungsbild der Ambassadorenstadt Solothurn. Foto: Pia Neuenschwander
Eine Kirche wie keine andere
250 Jahre St. Ursen-Kathedrale Solothurn
Seit 250 Jahren prägt die St. Ursen-Kathedrale das Solothurner Stadtbild. Sie erhebt sich an einem Ort, der seit anderthalb Jahrtausenden das christliche Zentrum von Solothurn bildet. Ein Blick in die komplexe und bewegte Geschichte einer Kirche, die 1828 zur Kathedrale erhoben wurde.
von Reto Stampfli*
Es soll Solothurner:innen geben, die äusserst beglückende Gefühle durchleben, wenn sie nach einem längeren Ferienaufenthalt auf ihrer Rückreise von Weitem den St. Ursenturm erblicken können. Es soll sogar lokalpatriotische Extremist:innen geben, die extra die Anfahrt über Riedholz wählen, da sich auf der Baselstrasse bei den Weihern, kurz bevor man hinunter nach Feldbrunnen gelangt, der eindrücklichste Anblick der meerschaumweissen Kathedrale bietet.
St. Ursen gehört zu Solothurn und prägt seit 250 Jahren das Erscheinungsbild der Ambassadorenstadt. Als Pfarrkirche und Kathedrale des Bistums Basel ist sie für Einheimische und Besuchende ein beständiger Orientierungspunkt, frei nach dem Solothurner Lied: «Es gugget der Sant-Urse-Turm wyt usen übers Land, ’s isch immer, ’s isch immer e so gsi!»
Auf Gräbern entstanden
«Was, St. Ursen gibt es erst seit 250 Jahren?» Diese Reaktion auf das Jubiläum ist nicht selten. Als Erklärung dient dann der Hinweis, dass das heutige Bauwerk bereits das dritte oder gar vierte Gotteshaus an diesem Standort sei. Laut Bischof Eucherius von Lyon existierte in Solothurn schon um das Jahr 400 eine christliche Gemeinde. In den ersten Jahrhunderten des Christentums waren Kirchen entweder Hauskirchen oder sie waren Schreine auf den Grabstätten von Märtyrern oder Heiligen, die sich nach der üblichen Praxis ausnahmslos am Rand der Siedlungsgebiete befanden. Die Ausgrabungen unter der Peterskapelle – unweit der Kathedrale – bestätigen diese Theorie, denn die Kapelle St. Peter am Klosterplatz geht auf einen Memorialbau aus dem 5. Jahrhundert zurück.
Im Zentrum des Gedenkens standen in Solothurn von Anfang an die beiden Thebäer Urs und Viktor, wobei die Gebeine von Viktor vermutlich bereits im Jahr 550 nach Genf überführt wurden. Aus diesem Grund galt die Hauptaufmerksamkeit dem Soldatenheiligen Urs, der mit Rüstung und Schild für Glaubensfestigkeit und Tapferkeit einstand. So kann auch der Ursprung der St. Ursenkirche im Bereich dieses spätantik-frühmittelalterlichen Gräberfeldes erklärt werden. Erst später verschmolzen dieser Friedhof und seine Kultstätten mit dem Castrum Salodurum, daraus entwickelte sich allmählich das mittelalterliche Solothurn. Der erste reine Sakralbau an diesem Ort geht vermutlich in das 9. Jahrhundert zurück, als Hinweis dient eine Erwähnung des St. Ursenstifts, der bis ins 19. Jahrhundert erhalten blieb. Ein zweiter grösserer Bau folgte im Verlauf des 11. Jahrhunderts. Der erste schriftliche Hinweis auf das sogenannte St. Ursenmünster datiert jedoch erst auf 1294, als grössere Umbauarbeiten stattfanden. Eine «Zwischen-Kirche» im romanischen Baustil kann somit nicht ausgeschlossen, aber auch nicht zweifelsfrei belegt werden.
Fall und Aufstieg
Als der englische Historiker und Aufklärer Edward Gibbon 1755 nach Solothurn kam, gefiel ihm so einiges im Städtchen an der Aare, lediglich für die «alte Stadtkirche» fand er kein gutes Wort. Er berichtete seinem Vater in einem Brief, dass dieser Bau «unschön» sei und «eine schlechte Ausstrahlung» habe. Tatsächlich muss sich das St. Ursenmünster mit seinem gotischen Turm, dem «Wendelstein», in jener Zeit in einem pitoyablen Zustand befunden haben. Als man nach langen Verhandlungen begann, Teile der baufälligen Kirche abzubrechen, stürzte der klobige «Wendelstein», den man eigentlich erhalten wollte, am 25. März 1762 ein. Wahrlich ein Glücksfall, und das nicht nur, weil niemand ernsthaft verletzt wurde. Dieses brachiale Ereignis brachte es mit sich, dass man das ganze Projekt überdenken musste und gipfelte in einem kompletten Neubau.
Nach jahrelangem architektonischem und politischem Hin und Her übergab der Grosse Rat im Mai 1763 die Leitung dem erfahrenen Tessiner Bauherrn Gaetano Matteo Pisoni (1713–1782) und seinem Neffen Paolo Antonio (1738–1824). Der ältere Pisoni veranlasste unter anderem, dass der Neubau auf die Achse der Hauptgasse ausgerichtet wurde, ein Umstand, für den man bis heute dankbar sein kann, wenn man von der St. Ursentreppe aus ins Herz der Altstadt blickt. Weiter wurde der Standort des Turmes von der Fassade weg auf die rückwärtige Seite in den Chorraum verlegt.
«Schöner als Rom»
1784 gelangte die deutsche Schriftstellerin Sophie von La Roche nach Solothurn und konstatiert beim Anblick der neu erbauten St. Ursenkirche: «Wie viel schöner ist diese Kirche doch, als was mittelalterliche Baumeister zustande gebracht hätten.» Einer ihrer Reisebegleiter versteigt sich sogar zur Behauptung, «dass Rom wohl grössere, aber keine schöneren Tempel habe». Die von Pisoni erschaffene Kirche war der erste grosse klassizistische Sakralbau der Deutschschweiz. Dieses Bauwerk gab bis weit über die Landesgrenzen hinaus zu reden.
Vielerorts rätselte man darüber, wie sich die Solothurner dieses Prunkstück leisten konnten, hatte doch im Oktober 1770 die Baukommission entschlossen, die beiden Pisoni aus Spargründen zu entlassen. Eine weitere Sparmassnahme manifestierte sich durch den fehlenden zweiten Turm: Gaetano Pisoni hatte vorgeschlagen, einen zweiten, etwas kleineren Turm zu bauen. Das entsprechende Fundament wurde erstellt. Doch dann waren die zusätzlichen Kosten den Bauherren schlicht zu hoch. Sie investierten das Geld lieber in die Sakristei. Statische Gründe, die bis heute immer wieder als Erklärung angeführt werden, waren also nicht die tatsächliche Ursache.
Die unbekannte Schwester
Bis heute staunt man, wie rasch Gaetano Pisoni 1763 fixfertige Pläne zum Neubau von St. Ursen zur Hand hatte. Der Grund ist recht simpel: Er übernahm Konzept und Formen weitgehend von der Kathedrale Saint-Aubin im belgischen Namur. Diese Kirche entstand im Stil des Spätbarocks und blieb in ihrer Bauweise in Belgien ein Einzelfall. Gaetano Pisoni, der auch in Brüssel wirkte, wurde mit dem Bau in Wallonien beauftragt. 1751 fand die Grundsteinlegung statt; die Arbeiten, insbesondere an der Kuppel, zogen sich jedoch hin und konnten erst 1767 abgeschlossen werden – vier Jahre nach Baubeginn in Solothurn. Ist also St. Ursen etwa eine Kirche wie eine andere? Ohne anmassend zu klingen, ist beim Vergleich der beiden Schwesterkirchen zu bemerken, dass es zwar Übereinstimmungen gibt, St. Ursen jedoch als Gesamtwerk in Harmonie und Ausstrahlung eine ganz andere Klasse darstellt.
Kirchen und Kapellen sind mehr als museale Relikte oder Touristenattraktionen; es sind heilige Räume, durch die der Mensch sich bemüht, dem Wesen der Existenz selbst näherzukommen, jeweils durch die Weltsicht der jeweiligen Kultur und Epoche. St. Ursen ist ein Kind des Klassizismus, mitgeprägt durch den Barock, eine Auffälligkeit unter den Kirchenbauten des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Das Interieur der Kathedrale erscheint nicht zuletzt wegen der kostbaren Materialien der Ausstattung reich und gediegen. Die Kunst- und Architekturhistorikerin Johanna Strübin bemerkt dazu: «Die polierten Steine an den Altären und an der Kanzel stellen dabei ein besonderes Highlight dar, schon zur Bauzeit. Denn die Verwendung von Marmor als Verkleidungsmaterial von Altären und Kanzeln ist die Ausnahme in der Eidgenossenschaft nördlich der Alpen im 17. und 18. Jahrhundert.» St. Ursen ist halt doch eine Kirche wie keine andere.
*Erstpublikation: Solothurner Kirchenblatt
Programm zum 250. Jubiläum der St. Ursen-Kathedrale
Referat von Reto Stampfli: «Mystisches und Mysteriöses. Heiliger Boden, die Köpfe der Märtyrer und der fehlende Turm». Dienstag, 9. Mai, 19.00, Pfarrsaal St. Ursen, Propsteigasse 10, Solothurn. Es ist keine Anmeldung nötig.
Sämtliche Aktivitäten des bunten Programms zum 250. Jubiläum der St. Ursen-Kathedrale: 250stursenso.ch