Die Grotte des heiligen Ursicinus als Detail des gestickten Wandbildes. Foto: © Jean-Claude Gadmer

Eine Million Kreuzstiche für Saint-Ursanne

13.03.2020

In der Stiftskirche von St.-Ursanne hängt ein gesticktes Wandbild. Es zeigt die Stadt und Motive aus ihrem Kulturerbe. 192 Personen haben daran gestickt oder genäht. Eine davon ist Lucette Stalder.

Sylvia Stam

Lucette Stalder sprudelt, wenn sie vom «panneau brodé» erzählt, von jenem gestickten Wandbild, das seit Januar in der Stiftskirche von St.-Ursanne hängt. Inspiriert von gestickten Bannern, wie sie für Jubiläen der französischen Städte Baume oder Cluny geschaffen wurden, hatte die 67-jährige Ursannerin die Idee, etwas Vergleichbares zum 1400-Jahr-Jubiläum ihrer Stadt zu machen. «Für das Hauptbild haben wir eine Ansicht der Landschaft gewählt, wie Ursicinus sie gesehen haben muss, als er über den Col des Rangiers hierher kam», erzählt Stalder.

Fünf einzelne Motive aus dem Kulturerbe von St.-Ursanne sind als eigene gestickte Bilder gleichsam in diese Landschaft gesetzt. Sie zeigen die Statuen der Mutter Gottes mit dem Christuskind sowie die von Ursicinus aus dem Südportal der Stiftskirche, die Grotte mit der Statue des liegenden Heiligen, seinen Sarkophag in der Krypta und in der Mitte die silberne Reliquienbüste aus dem Stiftsschatz – alles in Kreuzstichen gesrickt. Insgesamt 1'566'962 Stiche waren nötig, um das Wandbild von 2,66 Metern Breite und 1,29 Meter Höhe herzustellen.

156 kleine Rechtecke

Wie aber konnte ein solches Projekt realisiert werden? Wer das Bild aus der Nähe betrachtet, erkennt, dass es aus lauter kleinen Rechtecken besteht, 156 insgesamt, die zusammengenäht wurden. Jedes Rechteck ist etwa 10 cm hoch und 25 cm breit.

Nachdem die Idee zu den Sujets stand, wurden diese mittels einer entsprechenden Software von der Französin Hélène Martial in Stickschrift übersetzt. «Sie hat dafür mindestens 650 Stunden investiert», erzählt Lucette Stalder mit leuchtenden Augen. Im März 2019 lancierte die Französin Marie-Jeanne Lambert, die einen Stickerei-Blog führt, einen Appell zum Mitmachen auf der Website und der Facebookseite des Stickvereins «Les petits points de Marijou».

«Jede Stickerin hat ein Stück Tuch und die gedruckte Stickschrift mit der Anleitung erhalten, und zwar in der Reihenfolge ihrer Anmeldungen. Sie haben im Gegenzug ihre Zeit und die Kosten für das Stickgarn investiert", erzählt Stalder. Das Garn wurde von den Initiantinnen festgelegt, sodass die 164 Stickerinnen und der eine Sticker, darunter 42 aus der Schweiz, die übrigen aus Frankreich, anhand von Nummern die richtigen Farbtöne bestellen konnten.

Von links nach rechts sticken

Die Anmeldungen kamen schnell herein, ist in der Broschüre, die das Gesamtprojekt dokumentiert, nachzulesen. Zwei Monate nach dem Appell waren demnach die Aufträge verteilt. Die Stickerinnen hatten bis Mitte Oktober Zeit, um ihr Rechteck fertigzustellen. In der Anleitung wurde vermerkt, dass die Stickerei von links nach rechts zu erfolgen hätte.

Nicht ganz alle hätten sich daran gehalten, erzählt Lucette Stalder. Bei genauer Betrachtung erkennt man denn auch bei einzelnen Rechtecken eine andere Schattierung, weil die Stiche von unten nach oben erfolgt sind. «Das gibt den Grüntönen des Waldes eine eigene Schattierung», sagt Stalder lachend, «deshalb stört es nicht wirklich.»

Nach und nach seien die fertig gestickten Rechtecke zurückgeschickt worden. «Es war jedes Mal eine Überraschung, wenn wieder ein Päcklein hereinkam.» Nicht wenige seien mit einer Karte versehen gewesen. Einige davon bezeugen, dass die Arbeit nicht nur eitel Freude war: "Wir haben die Farbe Grün aus unseren nächsten Projekten verbannt», heisst es etwa auf einer Karte, die in der Broschüre abgebildet ist. «Endlich fertig, 32 Jahre nach meiner Hochzeit», heisst es auf einer anderen, versehen mit einem Datum. Insgesamt sei aber die Freude am gemeinsamen Projekt im Vordergrund gestanden, erzählt Stalder. Dies sei für die meisten der eher älteren Frauen die Hauptmotivation gewesen.

«Meisterstück meiner Stickerinnenkarriere»

«Für die fünf Hauptmotive haben wir bestimmte Stickerinnen angefragt, die sich bereits bei früheren grösseren Projekten bewährt hatten.» Stalder erwähnt insbesondere Michèle Garnier aus dem französischen Albi, welche das zentrale Motiv der Reliquienbüste gestickt hat. «Sie hatte eindeutig die komplexeste Aufgabe», versichert Stalder, die selber keine Stickerin ist, aber beim Zusammennähen der einzelnen Rechtecke mitgeholfen hat.

«Es war mir eine Freude, meinen heiligen Ursicinus sticken zu dürfen», hat Garnier laut der Broschüre als Botschaft auf den Rand des Stoffes gestickt, «ich glaube, dieses Werk ist das Meisterstück meiner Stickerinnen-Karriere.»

Im September begannen die Näherinnen, die Rechtecke zusammenzunähen. Insgesamt 23 Frauen aus der Schweiz und aus Frankreich beteiligten sich an diesem zweiten Teil des Projekts. «Auch das Nähen erfolgte von Hand», erzählt Lucette Stalder stolz. «Für eine horizontale Reihe haben wir etwa eine Stunde gebraucht.»

«C'est pour Saint-Ursanne»

Nach vier Zusammenkünften waren die Rechtecke Ende November zusammengenäht. Nun wurde das Gesamtwerk auf der Rückseite mit Vlieseline verstärkt und mit einem weiteren Tuch abgedeckt, sodass insgesamt drei Lagen Stoff übereinander liegen. Am 17. Dezember schliesslich war das Gemeinschaftswerk beendet. Die meisten der insgesamt 192 beteiligten Personen seien bei der Segnung und Einweihung des Werkes am 25. Januar nach St.-Ursanne gekommen, erzählt Lucette Stalder.

«Zu Beginn waren wir nur zu zweit. Wir stellten uns 1000 Fragen, natürlich gab es Momente des Zweifels!», erzählt die inzwischen pensionierte Archäologin rückblickend. «Mit der Zeit wuchs das Vertrauen, dass es gelingen würde.» Zu ihrer eigenen Motivation befragt, überlegt sie einen Moment. «C'est pour Saint-Ursanne», sagt sie schliesslich – es sei für St.-Ursanne. Ob sie damit die Stadt oder den Heiligen meint, lässt sie offen.

 

1400 Jahre St.-Ursanne


2020 jährt sich das Todesjahr des heiligen Ursicinus zum 1400. Mal. Gemäss glaubhaften Quellen hat sich der Schüler Kolumbans am Doubs in einer Grotte niedergelassen, um als Eremit zu leben. Der Legende nach soll ihm ein Bär (lateinisch ursus) als Gehilfe gedient haben, daher der Name Ursicinus.
Das Jubiläum wird während eines ganzen Jahres gefeiert: Mit Konzerten, Kunstausstellungen, Tagungen, Pilgerreisen, Erzählungen und Theaterstücken soll ein möglichst breites Publikum angesprochen werden. Einige der Höhepunkte sind ab dem 4. April zugänglich, so eine Ausstellung mit Objekten aus dem Schatz der Stiftskirche. Dazu zählen eine silberne Reliquienbüste, ein Manuskript mit Gesängen aus dem 17. Jahrhundert und ein Altarkreuz. Ein Skulpturenweg wird zehn hölzerne Tafeln zeigen, welche bekannte Legenden aus dem Leben von Ursicinus illustrieren. Ein «Geheimer Rundgang» wird zu Stationen innerhalb der Stadt führen. Hier werden mit Hilfe einer App auf spielerische Weise Informationen vermittelt. (sys)

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