Yvonne Oberhänsli ist Dekorationsgestalterin, Ergotherapeutin und Mutter von zwei Jugendlichen. Foto: Ruben Sprich
Eine Osterkerze auf Wanderschaft
Die Münsinger Osterkerze brennt noch je ein Jahr lang in zwei verschiedenen Institutionen.
Die Osterkerze der Pfarrei Münsingen hat ein bewegtes Leben. Jeweils ein Jahr lang brennt sie in der katholischen Kirche, im Psychiatriezentrum und in einem Alterszentrum vor Ort. Danach kommtsie zur Person zurück, die das Sujet entworfen hat.
von Sylvia Stam
Yvonne Oberhänsli: «Für das Motiv der Osterkerze habe ich möglichst gerade Linien gewählt. Denn mit dem Motiv dekorieren Freiwillige auch 100 Heimosterkerzen, die nach dem Gottesdienst verkauft werden. ‹Gerade Linien› und ‹Kirche›, da hat sich ein Kreuz aufgedrängt. Ich habe verschiedene geometrische Figuren gewählt, um die Vielfalt der Menschen darzustellen, die Kirche ausmachen. Jede:r ist einzigartig, wir ergänzen einander.
Die Farben sind warm und harmonisch. Der Mittelpunkt ist goldig, als Symbol für das kostbare Zentrum, das Göttliche. Ein Teil des Längsbalkens ist aus Spiegelfolie, damit der/die Betrachter:in sich auch angesprochen fühlt. Je nach Lichtverhältnissen spiegelt man sich darin. Der gelbe Hintergrund hält das Ganze zusammen. Oben und an den Seiten geht das Motiv jedoch über den Hintergrund hinaus, denn man soll auch über die Grenzen hinausdenken. Unten ist demgegenüber ein stabiles Fundament. Die Querbalken des Kreuzes machen die Rundung der Kerze mit. Dadurch sehen die Betrachtenden das ganze Sujet erst, wenn sie sich bewegen. Man muss die Perspektive wechseln.
Für die Produktion der 100 Heimosterkerzen habe ich einen Ablauf und eine Vorlage erstellt. Ausserdem habe ich die asymmetrischen Teile zuhause bereits ausgeschnitten. So konnten wir an einem Vormittag alle 100 Kerzen fertigstellen. Ich erfahre Kirche in meinem Leben mehrheitlich positiv. Als Jugendliche kam ich in eine tolle Bibelgruppe, die mich sehr geprägt hat. Ich begegne immer wieder interessanten Leuten.»
Felix Klingenbeck: «Die Osterkerze mit dem Motiv von Yvonne Oberhänsli wurde in der Pfarrei positiv aufgenommen. Das Kreuz ist ein brutales Folterinstrument. Die einzelnen klotzartigen Teile des Motivs weisen auf das Zerbrochene hin, dass da alles ausser Rand und Band gerät. In den lichten Farben scheint die Hoffnung von Ostern auf. Ostern ist ein Übergang: Aus Trauer, Depression, Gewalt kommt es zu neuer Hoffnung.
Aus den Evangelien ist zu erfahren, was vorher geschah und wie es nach der Auferstehung Jesu weiterging. Doch was dazwischen geschah, dieser Übergang vom Schwierigen zu einer neuen Perspektive, das wird nicht erzählt. Das ist nicht greifbar. Dazu passt die Lichtsymbolik. Die Osterkerze brennt während der Osterzeit, also von Ostern bis Pfingsten, in jedem Gottesdienst. Danach nur bei Taufen und Beerdigungen, vereinzelt an Hochzeiten. Nach einem Jahr ist sie darum noch immer recht stattlich.»
Esther Schweizer: «Mir gefällt die Symbolik dieser wandernden Osterkerze: Die katholische Pfarrei, das Psychiatriezentrum und das Altersheim sind auf diese Weise miteinander verbunden. Die Osterkerze aus dem Jahr 2022 ist ästhetisch schlicht. Das spricht mich sehr an. Die Vertikale des Kreuzes ist stark betont – wie eine Verbindung vom Himmel zur Erde. In der Kapelle des Psychiatriezentrums brennt die Kerze jeden Sonntag während des Gottesdienstes, also mehr als fünfzig Mal pro Jahr. Hierher kommen Patient:innen der Klinik. Sie sind reformiert, katholisch, auch freikirchlich oder konfessionslos. Manchmal kommen sogar muslimische Menschen, um sich Gott nahe zu fühlen.
Auch Leute von Münsingen besuchen unsere Gottesdienste. Das ist ein sehr schönes Miteinander. In schweren Zeiten, etwa bei einer Depression, ist das Licht der Kerze ein Zeichen der Hoffnung. Es soll das Vertrauen stärken, wieder gesund zu werden. Zudem ist es auch Symbol für die Nähe und Gegenwart Gottes. Denn manchmal fragen sich die Menschen hier: Hat Gott mich verlassen?»
Adrian Junker: «Die Kerze wird bei uns mit einem würdevollen Ritual eingesetzt. Ich war ganz neu Heimleiter, da fragte mich eine Pflegefachfrau, warum Verstorbene durch den Keller aus dem Heim hinausgetragen würden, dort, wo auch der Kehricht entsorgt wird. Ich schlug daraufhin vor, die Bewohnerinnen und Bewohner zu fragen, wie ihr Leichnam dereinst aus dem Haus getragen werden solle. Die Antwort kam unisono: ‹Durch den Haupteingang, dort, wo ich auch reingekommen bin.›
Seither begleiten wir die Verstorbenen nicht nur durch den Haupteingang hinaus, darüber hinaus wird die Osterkerze an ihrem Todestag angezündet und beim Haupteingang aufgestellt. Hier brennt sie während 24 Stunden. So wissen alle, Bewohnende, Mitarbeitende wie Besuchende, dass jemand gestorben ist. Am zweiten Tag wird die Osterkerze weggeräumt, dafür stellen wir eine kleine Laterne auf den Tisch, damit die Leute wissen, dass am Vortag jemand gestorben ist. Auf diese Weise geben wir dem Tod eine schöne Plattform. Die Osterkerze wird ausschliesslich zu dieser Begebenheit angezündet.»
Die Osterkerze wandert weiter
In der Pfarrei Münsingen wird das Sujet der Osterkerze jedes Jahr von einer anderen Person aus der Pfarrei entworfen. Dieses wird von der reformierten Kirchgemeinde Münsingen übernommen. Am Palmsamstag verzieren Freiwillige die kleinen Heimosterkerzen. Im ersten Jahr brennt die Osterkerze in der katholischen Kirche Münsingen. Danach wird sie in die Kapelle des Psychiatriezentrums Münsingen gebracht, im dritten Jahr brennt sie im Alterszentrum Schlossgut. Im vierten Jahr geht der Rest schliesslich an die Person zurück, die das Sujet entworfen hatte.