Sein Kampf gegen die «Verjudung»: Heinrich Rothmund (1888–1961), Chef der Zentralstelle für Fremdenpolizei, aufgenommen am 18. August 1941 in seinem Büro in Bern. Foto: Keystone

Eine wachsende Front gegen die «Verjudung»

02.03.2016

150 Jahre Emanzipation der Schweizer Juden

Im Jahr 1866 erhielten die Schweizer Juden mit Stimm- und Wahlrecht die vollen Rechte als Schweizer Bürger. Dies war und ist freilich kein Garant gegen Judenfeindschaft, wie 1893 die Einführung des Schächtverbots zeigte. Auf die Zuwanderung osteuropäischer Juden folgte eine Politik gegen die «Verjudung» der Schweiz. Lange ansässige Juden fürchteten um eine Degradierung zu «Fremden».


Von Hannah Einhaus


Gleiche Rechte bedeuteten für die Juden in der Schweiz nicht automatisch gleiche Achtung und gleiche Chancen. Das klare «Ja» für ein Schächtverbot im Jahr 1893 hatte gezeigt, dass ein tierschützendes, antisemitsch geprägtes Initiativkomitee mehrheitsfähig war für eine Einschränkung der Religionsfreiheit. Anders gesagt: Die Emanzipation erwies sich als sehr brüchig.
Erst seit einer Generation verfügten Juden in der Schweiz über das Stimm- und Wahlrecht sowie die Wehrpflicht. Trotz oder gerade wegen des Dämpfers von 1893 entwickelten viele jüdische Männer einen ausgeprägten Patriotismus, was sich unter anderem in der Armee zeigte: Jüdische Schweizer waren unter den Offizieren überdurchschnittlich vertreten – eine Art Liebesbeweis für die Eidgenossenschaft und ein Beleg für den guten Willen, sich zu integrieren. Umso mehr sorgte eine Zuwanderungswelle aus Osteuropa für Besorgnis.

Durchwanderer aus Russland

Um die Jahrhundertwende und insbesondere nach der Russischen Revolution emigrierten Hunderttausende Juden Richtung Westen. Zehntausende waren bei Pogromen in Russland und im heutigen Polen ermordet worden, ganze Dörfer niedergebrannt. Die Mehrheit der sogenannten Durchwanderer hatte Amerika zumZiel, mehrere Hundert machten auch Halt in der Schweiz und in Bern. Die meisten kamen als Hausierer, Handwerker oder Bettler. Ultraorthodoxe trugen schwarze Kaftane, andere waren überzeugte Sozialisten. Weder in religiöser noch in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht kamen die sogenannten Ostjuden den liberal-bürgerlich geprägten ansässigen Juden zupass. Die hiesigen Gemeinden lehnten Zuwanderer aus dem Osten als Mitglieder ab.

Diskriminierende Behandlung

von Ostjuden Nicht zu Unrecht befürchteten die seit Generationen ansässigen Juden, die hart erkämpfte Gleichberechtigung zu verlieren. Es war kein Geheimnis, dass sich Heinrich Rothmund, seit 1917 Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei, den Kampf gegen die «Verjudung » auf die Fahnen geschrieben hatte. Bei Niederlassungsbewilligungen und Einbürgerungen von Ostjuden galten höhere Messlatten als bei anderen Ausländern. Um einen roten Pass zu erhalten, benötigten die Antragsteller üblicherweise zehn Jahre Aufenthalt in der Schweiz, bei den Ostjuden waren es deren fünfzehn. Für die hiesigen jüdischen Gemeinden stand fest: Rothmunds Kampf gegen die «Verjudung» konnte auch sie treffen und ihre Bürgerrechte infrage stellen.
Zudem wurde wie in anderen Städten die Armenkasse der Berner Gemeinde ausserordentlich stark strapaziert. Viele Durchwanderer klopften an die Tür, um einen finanziellen Zustupf zu erhalten. So entstand 1920 neben dem Hotel National am Hirschengraben eine ostjüdische Gemeinde. «Ich würde sagen, es war nicht bloss ein Nebeneinander, sondern Abschottung», beschrieb einst ein in Polen geborenes Mitglied der Berner Gemeinde die damalige Mentalität.
Diese innerjüdische Trennung blieb bis weit in die 40er Jahre bestehen. Die Abgrenzung gegenüber Glaubensgenossen aus dem Osten beschäftigte den Vorstand der jüdischen Gemeinde in Bern und anderen Schweizer Städten mehr als die aufkommenden antisemitischen «Erneuerungsbewegungen» ab den 20er Jahren. Letztere schlossen sich 1933 zur «Nationalen Front» (NF) zusammen und gewannen nach Hitlers «Machtergreifung» auch in der Schweiz an Boden dazu.
Die Kirchen als Institutionen reagierten auf diese Entwicklungen mehrheitlich gleichgültig oder judenfeindlich. Wie bereits im 19. Jahrhundert prägte das Bild der «Jesusmörder» weiterhin ihr Verhalten gegenüber der jüdischen Minderheit.

Rothmund erwartet vollständige Assimilation

In seinem Kampf gegen die «Verjudung» ging Fremdenpolizeichef Heinrich Rothmund davon aus, dass Juden erst durch eine vollständige Assimilation richtige Schweizer sein konnten – also erst durch die vollständige Aufgabe der jüdischen Identität.
Dieser helvetisch geprägte Antisemitismus schien so verbreitet zu sein, dass ihn die Schweizer Juden verinnerlicht hatten und sich in erster Linie mit dem rassistisch motivierten Antisemitismus der Nationalsozialisten befassten. Umso tiefer sass der Schock bei der jüdischen Führung, als die Schweizer Armee 1941 in ihrem offiziellen Organ «Wehrbrief» die Juden als «îlot ethnique «, als «völkische Zelle» bezeichnete, welche nicht assimilierbar sei – ein Affront ohnegleichen für die verdienten Offiziere. Rothmund stand innerhalb der politischen Elite mit dieser Haltung keineswegs allein. Obschon zu diesem Zeitpunkt die systematische Diskriminierung von Juden in den von Deutschland besetzten Ländern bekannt war, erhielten jüdische Flüchtlinge in der Schweiz eine Sonderbehandlung.
Die hiesigen Gemeinde waren der Situation ohnmächtig ausgeliefert. Von kirchlicher Seite war keine Hilfe zu erwarten. Die positiven Beispiele wie Gertrud Kurz vom Christlichen Friedensdienst oder der Nuntius in Bern waren Ausnahmen, welche die Regel bestätigten: Die meisten offiziellen Repräsentanten der katholischen und reformierten Kirchen billigten die Haltung der Regierung stillschweigend oder gar ausdrücklich. Eine Kehrtwende setzte erst nach 1945 ein.

 

Hinweis
In loser Folge publizieren wir in diesem Jahr verschiedene Artikel zum Thema «150 Jahre Emanzipation der Schweizer Juden». Im 3. Teil wird Hannah Einhaus im April das Verhältnis der Schweizer Kirchen zu Weltverschwörungstheorien anhand des Berner Prozesses gegen die «Protokolle der Weisen von Zion» von 1934/35 beschreiben. Alle Folgen gibt es HIER