Kloster Müstair im Winter. Foto: zVg
Eine (Winter-)Reise nach Müstair ins Kloster St. Johann
Teil 1: Gott, Starbucks und gelebte Geschichte
Gegründet von Karl dem Grossen, berühmt für seine Fresken und UNESCO-Weltkulturerbe, zieht das Kloster St. Johann jedes Jahr 45'000 Touristen ins Val Müstair. Heute leben hier noch acht Ordensfrauen. Sie schauen in eine ungewisse Zukunft.
Annalena Müller*
«Am liebsten habe ich den Latte Macchiato und den Weihnachtskaffe mit Sahne, Karamell und Cookies», sagt die Ordensfrau und lacht herzlich. Schwester Birgitta ist Starbucks-Fan. Vor ihrem Eintritt ins Kloster arbeitete sie als Kindermädchen und lebte unter anderem in Seattle und Shanghai. Ihre Ferien verbrachte sie in Las Vegas. «Die grossen Hotels, das Licht, die Casinos. Und natürlich die Shows!» Besonders Siegfried und Roy hatten es Birgitta angetan. «Aber die Tickets waren teuer. Deswegen habe ich auch mal «gegambelt. Meistens erfolgreich», erzählt die Klosterfrau.
Seit nunmehr 15 Jahren lebt die 61-jährige Ostschweizerin im Kloster St. Johann in Müstair. Hier gibt es keinen Starbucks, keine Casinos und keine Shows. Der nächstgelegene Bahnhof in Zernez liegt über eine Stunde Fahrt mit dem Postauto entfernt.
Eingebettet zwischen Umbrail-, Ofen- und Reschenpass, liegt das Val Müstair im äussersten Osten der Schweiz. Besuchende fühlen sich am Ende der Welt, und sie kommen deswegen hierher. Und wegen des Klosters, das zu den schönsten der Welt gehört und seit mehr als 1250 Jahren in dem Tal thront.
Klostergründung im 8. Jahrhundert
Der Legende nach soll Karl der Grosse das Kloster 775 gegründet haben, nachdem er und sein Trupp in einen Schneesturm kamen und diesen überlebten. «Tatsächlich belegen dendrochronologische Untersuchungen am Gehölz der Kirche die Klostergründung zu dieser Zeit», erzählt Romina Ebenhöch, Leiterin des Klostermuseums. Neben Dank für den überstanden Sturm dürften vor allem strategische Überlegungen ausschlaggebend gewesen sein.
«Das Münstertal liegt auf einer im Mittelalter wichtigen Route nach Italien. Der Umbrailpass war auch im Winter passierbar und deswegen war der Ort hier von grosser Bedeutung. Quasi als Camp für den König und seine Gefolgschaft, wenn sie zum Beispiel auf Kriegszug nach Norditalien waren.»
Seit seiner Gründung im 8. Jahrhundert ist das Kloster durchgehend bewohnt. Weltweit ist das eine Seltenheit. Zunächst lebten Mönche in der Anlage, seit dem 12. Jahrhundert Frauen. «Die genauen Gründe für den Wechsel vom Mönchs- zum Nonnenkloster kennen wir nicht, aber das war zu der Zeit nichts Ungewöhnliches,» sagt Ebenhöch.
UNESCO-Weltkulturerbe und tausende Touristen
Heute besuchen jährlich 45'000 Touristen ins Kloster, das seit 1983 UNESCO-Weltkulturerbe ist. Sie besichtigen die Kirche mit den berühmten karolingischen und romanischen Fresken und das Museum, in dem eine neue Ausstellung Einblicke in das Leben der Klosterfrauen in der Zeit des Barock gibt.
Neben den Tagesgästen gibt es diejenigen, die im Kloster Ferien machen. Elf Personen finden sich an diesem Morgen im Frühstücksraum ein, einem holzgetäfelten ehemaligen Äbtissinnengemach aus dem 18. Jahrhundert. In das abgelegene Bündner Tal kommen sie auf der Suche nach Ruhe und Spiritualität.
Miranda Mattas ist gläubige Katholikin und aus San Diego angereist. Die Mutter von drei Kindern zieht sich jedes Jahr für eine Woche in ein Kloster zurück. Dieses Jahr fiel ihre Wahl auf St. Johann, weil sie hier Geschichte erleben und gleichzeitig den Gebetsalltag der Nonnen teilen kann.
Während Mattas zum ersten Mal in Müstair ist, sind die meisten anderen Wiederkehrende. Verena Regenass aus Baselland kommt vor allem «wegen des Bergfrühlings und der Atmosphäre im Kloster». Ihre Tischnachbarin und Reisekollegin ebenfalls. Sie sei zwar schon lange aus der Kirche ausgetreten, weil sie «mit dem Bodenpersonal nicht übereinstimme». Aber im Kloster besuche sie immer das Morgengebet der Nonnen. Ihr gefällt, dass die Schwestern im Kloster ihren Glauben zelebrieren, und zwar grösstenteils unabhängig von der katholischen Männerkirche.
(Fast) nur Frauen
Tatsächlich sind Männer im Kloster St. Johann nur eine Randerscheinung. Allein für die halbstündige Messe, die jeden Morgen in der Klosterkirche gefeiert wird, sind die Schwestern auf einen Priester angewiesen. Denn Frauen dürfen im katholischen Glauben nicht die Eucharistie feiern. Alle anderen Gebete und den Klosteralltag gestalten die Schwestern eigenständig.
Das Gebet strukturiert den Tag der Frauen und mancher Klostergäste. Dieser beginnt früh, im Kloster St. Johann mit der Vigil um 05.30. Kurz darauf folgt das Morgenlob, und direkt im Anschluss die Messe. Um 11.00 beten die Frauen die Sext, das Mittagsgebet. Auf das Rosenkranzgebet um 17.00 folgt die Vesper. Der Tag endet mit der Komplet um 19.30. Ab da gilt in St. Johann ein Schweigegebot – bis zur nächsten Vigil.
Jeder Tag folgt dem gleichen Rhythmus. Kloster und Militär haben hier gewisse Parallelen: streng strukturierter Alltag, Corpsgeist, Gehorsam und eine klare Hierarchie. Nur gibt es im Kloster keine Wochenenden und keinen Heimaturlaub. St. Johann ist bis heute ein geschlossenes Kloster. Das heisst, auch wenn sie heute kein Gitter mehr daran hindert, verlassen die Frauen die Klausur fast nie.
*Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen
Lesen Sie in Teil 2, wie das tägliche Leben hinter den Klostermauern abläuft…