Man muss versuchen, den Menschen von der Tat zu trennen», sagt der forensische Psychologe Samuel Buser. Symbolbild: Manuela Matt
«Einen Menschen nicht auf seine Tat reduzieren»
Gefängnisseelsorger und Psychologe Samuel Buser im Gespräch
Samuel Buser arbeitet als Gefängnisseelsorger und Psychologe mit Straftäter:innen. Im Interview erklärt er, wie er versucht, im Umgang mit Sexualstraftäter:innen den Menschen von seiner Tat zu trennen.
Interview: Sylvia Stam*
Mit welchen Schwierigkeiten ist eine Gemeinschaft oder Familie konfrontiert, wenn es einen Täter, eine Täterin in ihren Reihen gibt?
Samuel Buser: Sie stehen vor der Schwierigkeit, Tat und Person zu trennen. Das ist auch in der Forensik* enorm wichtig. Man muss versuchen, den ganzen Menschen zu sehen und nicht nur das Delikt. Deshalb spreche ich nicht gerne von Sexualstraftäter:innen, sondern von Herrn oder Frau XY, die ein Sexualdelikt begangen haben.
Was ist mit negativen Gefühlen wie Wut oder Aggression?
Angehörige müssen solche Gefühle ausdrücken können. Im ambulanten Setting haben wir oft mit Männern zu tun, die verbotene pädosexuelle Internetpornografie konsumiert haben. Da passiert es, dass die Polizei morgens um sechs kommt, um die Wohnung zu durchsuchen. Die Frau und allfällige Kinder sind komplett überrumpelt, weil sie von nichts wussten. Das ist ein massiver Vertrauensverlust. Es kommen Fragen hoch: «Warum hat mein Mann, mein Vater das getan? Das macht man doch nicht!» Diese Gefühle ausdrücken zu können, ist enorm wichtig.
Wie ist möglich, den Menschen von seinen Taten zu trennen?
Als Forensiker muss ich die Akten lesen, ehe ich der Person begegne. Das ist für mich wirklich das Schwierigste: Einvernahmeprotokolle, Gutachten etc. Manchmal denke ich dann: «Was ist das für ein Mensch? Was tue ich mir da an?» Dennoch bin ich immer wieder erstaunt, wenn ich den Patienten, die Patientin im Wartezimmer holen gehe. Dann ist da ein Mann oder eine Frau – das ist etwas ganz anderes.
In einer Familie oder einer Gemeinschaft kennt man den Menschen aber bereits.
Angehörige von Täter:innen lernen eine Seite dieses Menschen kennen, die sie nie erwartet hätten. Das ist sehr verunsichernd und löst ambivalente Gefühle aus. In einer Klostergemeinschaft kommt ein spiritueller Kontext dazu. Ich sage etwas fromm: Auch der Täter ist ein Kind Gottes. Ich denke an die biblische Szene der Ehebrecherin. Jesus sagt zu denen, die sie verurteilen möchten: «Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.» Das klingt theoretisch, aber mir hilft das wirklich, einen Menschen nicht auf seine Tat zu reduzieren.
Ist das nicht ein Affront für Opfer, wenn ich höre: «Der Täter ist auch ein Kind Gottes»?
Ja, das kann für Betroffene sehr schwierig sein, diese Haltung darf man von einem Opfer nicht verlangen. Die Tat darf man verabscheuen. Und die Aspekte des Menschen, die man gernhat, die darf man lieben, auch wenn das zuerst nicht möglich ist.
Werden Angehörige in die therapeutische Behandlung einbezogen?
Wir beziehen Partner:innen sehr gerne in die Behandlung mit ein, wenn sie das wünschen. Es geht darum zu wissen, was passiert ist. Nicht in den Einzelheiten, aber alles, was man weiss, vermittelt Sicherheit. Für die Angehörigen ist es wichtig zu wissen, dass in Form der Therapie etwas getan wird. Schön ist es, wenn sie den Mann oder Vater als initiativ erfahren, dass er selber aktiv mitwirkt in der Therapie.
Kann man denn etwas erreichen mit einer Therapie?
Man kann etwas tun, und das zu wissen, ist auch für die Angehörigen sehr wichtig. Man kann lernen, diese Impulse zu steuern. Durch Einsicht können missbrauchende Menschen erkennen, wie schädlich dies für die Opfer ist. Weiter stellt sich die Frage: Ist der Mensch pädophil oder nicht? Wir unterscheiden zwischen pädophil und pädosexuell**. Es gibt viele pädophile Menschen, die keine Delikte begehen. Und etwa die Hälfte der Delikte wird von Menschen begangen, die nicht pädophil sind. Ihre Taten sind eine Art Ersatzhandlung: Weil andere Formen von Sexualität nicht möglich sind, wird auf Kinder ausgewichen. Diese Situation verständlich zu machen, kann helfen, dass die Familie ihr nicht ohnmächtig ausgesetzt ist. Wenn man weiss, wie ein Delikt entstanden ist, kann man der Frage nachgehen, wie man vermeiden kann, dass das wieder geschieht.
Was ist das Ziel der Therapie?
Ziel der Therapie ist, dass der Täter keine weiteren Delikte begeht. Das ist Opferschutz. Zudem gilt es psychische Störungen zu therapieren. Ein weiteres Ziel ist, dass die Täter wieder in die Gesellschaft zurückkehren können. Die Strafe ist nach dem Strafvollzug verbüsst. Je nachdem werden die Opfer orientiert, wenn die Täter:innen Urlaub haben oder entlassen werden. Es dünkt mich wichtig für die Gesellschaft, dass die Täter:innen wieder intergiert werden.
Was bedeutet die Rückkehr in die Gesellschaft für die Täter:innen?
Auch für die Täter:innen ist das nicht einfach. Im Gefängnis sind sie geschützt vor einer Verurteilung, als «Pädophiler» zu gelten. Wenn der erwähnte Kapuziner in seine Gemeinschaft zurückkehrt, wird er auch mit seiner Tat konfrontiert. Ihm ist bewusst: «Meine Mitbrüder wissen das.» Wenn er in eine eigene Wohnung ziehen würde, wäre er wahrscheinlich weniger mit seiner Tat konfrontiert. Er exponiert sich ein Stück weit. Das Leben in einer Gemeinschaft birgt eine gewisse soziale Kontrolle, das ist auch Opferschutz.
Es gab Kritik, der Orden gehe gnädig mit dem Täter um, weil er im Kloster lebte.
Ich habe Verständnis für diese Kritik. Aber es geht nicht darum, ihn zu verwöhnen. Es ist wichtig, dass der Mensch sich mit dem, was er getan hat, auseinandersetzt. Die meisten Täter:innen haben grosse Schuld- und Schamgefühle. Wenn eine Gemeinschaft einen Täter in ihren Reihen behält, übernimmt sie damit auch Verantwortung für ihn.
Wie kann man bei der Arbeit mit Täter:innen die Opferperspektive im Blick behalten?
Täter:innenbehandlung ist immer auch Opferschutz, damit keine neuen Taten entstehen.
Wenn man Täter:innen therapeutisch mit grossem Aufwand behandelt, stellt sich aber tatsächlich die Frage: Was bekommen die Opfer, deren Leben komplett anders verlaufen wäre, wenn das nicht passiert wäre? Es ist ganz wichtig, das auch im Blick zu haben. Ich würde jedoch die Behandlung von Täter:innen nicht gegen die Behandlung von Opfern ausspielen. Es braucht beides, und beide Situationen müssen sehr sorgfältig angeschaut werden.
Lesen Sie dazu auch das Interview mit Josef Haselbach, Provinzial der Schweizer Kapuziner.
*Erstpublikation im Kantonalen Pfarreiblatt Luzern, 28.8.2023
Dies ist ein Beitrag aus der Kooperation der Arbeitsgemeinschaft der Pfarrblattredaktionen der Deutschschweiz (arpf.ch)
*Forensische Psychiatrie bezeichnet hier die psychiatrisch-psychologische Behandlung von Menschen, die eine gerichtlich oder behördlich angeordnete störungs- und deliktorientierte Therapie absolvieren müssen.
**Pädophil bedeutet wörtlich «kinderliebend». Ein sexueller Missbrauch an einem Kind ist nicht «kinderliebend». Pädophilie ist eine Diagnose, eine Präferenzstörung. Pädosexuell bedeutet Sexualität an Kindern.
Übergriff - was tun?
Anlaufstellen für Betroffene
Selbsthilfegruppe für Menschen, die sexuelle Gewalt im kirchlichen Umfeld erlebt haben
IG Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld
Kirchliche Anlaufstellen
Opferberatungsstelle Kanton Luzern
Schweizerische Opferberatung
Damit es nicht zur Tat kommt
Es gibt Institutionen, an die sich Menschen anonym wenden können, die verspüren, dass sie eine gewisse sexuelle Neigung gegenüber Kindern verspüren:
«Kein Täter werden Schweiz»
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