«Wir haben zwei Bevölkerungen, die das gleiche Gebiet beanspruchen», brachte Elham Manea das Grundproblem des Konflikts auf den Punkt.

«Es braucht neue Narrative»

14.02.2024

Hintergründe zum Nahost-Konflikt und Friedensperspektiven

Die Komitees zum Weltgebetstag sehen sich dieses Jahr gezwungen, mehr als sonst zu informieren. Grund ist die Wahl Palästinas als Trägerin der Liturgie. Eine Wahl, die schon Jahre vor dem Angriff der Hamas auf Israel feststand. Doch seit jenem 7. Oktober ist alles anders.

Text: Sylvia Stam, Fotos: Pia Neuenschwander

Weil das Bedürfnis nach Information seit dem 7. Oktober noch grösser geworden sei, lud die reformierte Kirchgemeinde Bern am Dienstag in der Friedenskirche zu einem Podium über die Hintergründe zum Nahost-Konflikt. Eingeladen wurden mit Shelley Berlowitz* und Elham Manea** zwei Fachpersonen, «die sich im Thema auskennen, ohne direkt betroffen zu sein», sagte Christine Lienemann, ehemalige Lehrbeauftragte für Ökumenische Theologie an der Universität Bern, in der Einführung. Eine Entscheidung, die sich bewähren sollte, wie der offene und sachliche Austausch zu einem hoch emotionalen Thema zeigte. Das Bedürfnis nach Information war offensichtlich gross. Aufgrund der 90 Anmeldungen wurde der Anlass kurzfristig vom Grossen Saal in die Kirche verlegt.

 

Von Narrativen – eine sinnstiftende Erzählung, die das Weltbild einer Gruppe beeinflusst – war an diesem Abend oft die Rede. Auf die Frage nach den Ursachen des Nahost-Konflikts erwähnte Shelley Berlowitz zwei solche Erzählungen: Da sei einerseits die zionistische Bewegung, die im Sehnsuchtsort Palästina eine bessere Welt für verfolgte Jüdinnen und Juden errichten wollte – ebenso für die dort ansässige einheimische Bevölkerung, so der sozialistische Grundgedanke. Auf palästinensischer Seite werde die zionistische Bewegung jedoch als kolonialistische Bewegung gesehen, die Land in Besitz nahm, das ihr nicht gehörte und die ansässige Bevölkerung vertrieb.  

Den Blick weiten

«Wir haben zwei Bevölkerungen, die das gleiche Gebiet beanspruchen», brachte Elham Manea das Grundproblem des Konflikts auf den Punkt. Sie regte dazu an, den Konflikt nicht nur durch das jeweils eigene Nadelöhr zu betrachten und verwies auf die weiter zurückliegende Geschichte: Auf 400 Jahre osmanisches Reich, zu dem Palästina gehörte, auf die Rolle von Grossbritannien, das nach dessen Zusammenbruch divergierende Versprechen abgab, sie fragte nach der Rolle der Uno und jener der arabischen Staaten. Auch wenn die Details dieser historischen Ereignisse an diesem Abend nicht ausgeführt werden konnten, so weitete doch allein schon Maneas Fragestellung den Blick für grössere  - und komplexere – Zusammenhänge. Entsprechend wies sie mehrmals darauf hin, dass das Narrativ vom Kolonialismus zu kurz greife.

Nach den Möglichkeiten einer Annäherung gefragt, antwortete Elham Manea: «Die Hamas ist keine Organisation, die Frieden will. Ich vertraue ihr nicht». Dem pflichtete Berlowitz bei, erinnerte aber auch daran, dass Israel die Hamas in den 80er Jahren eher als religiöse und damit weniger gefährliche Organisation eingestuft habe als etwa die politische PLO und Fatah. «Die Hamas hat sich im Zuge der weltweiten Radikalisierung der Islamisten radikalisiert. Dies wurde durch die zunehmende Unfreiheit der Palästinenser:innen unter der israelischen Besatzung gefördert.»

Echter Dialog schwierig

Diese Unfreiheit und deren Kontrolle durch die Israelis würden einen echten Dialog der beiden Bevölkerungsgruppen erschweren, so Berlowitz. Für Elham Manea braucht es neue Führungskräfte und Druck von aussen, damit eine Annäherung möglich wird. Saudi-Arabien etwa arbeite in diese Richtung, indem es Verhandlungen mit Israel an gewisse Bedingungen knüpfe.

Weshalb dieser Konflikt so emotional sei, wollte Kirchgemeinderätin Erika Hunziker, die einen Teil des Gesprächs moderierte, wissen. Der Nahost- Konflikt sei mit Antisemitismus und Shoah verbunden, «das bewegt viele Menschen im globalen Norden». Er habe aber auch mit Kolonialismus zu tun, was wiederum viele Menschen im globalen Süden bewege, so Berlowitz’ Erklärung. Konflikte, welche die Identität von Völkern beträfen, seien schwer zu lösen. Aus ihrer Sicht ist die Zivilgesellschaft gefragt: «Leute aus beiden Seiten, die zusammenarbeiten, müssen neue Narrative entwickeln», sagte Berlowitz und nannte als Beispiel die befreundeten Männer, ein Israeli und ein Palästinenser, die beide in diesem Konflikt ein Kind verloren haben und heute gemeinsam für Frieden eintreten. «Sie schaffen es, ein gemeinsames Narrativ zu entwickeln von Eltern, die Kinder verloren haben.»

«Dazu verdammt zusammenzuleben»

Palästinenser:innen und Israelis seien dazu verdammt, zusammenzuleben. «Sie müssen das Land teilen und merken, dass Geschichte nicht schwarz oder weiss ist, sondern immer grau», sagte Elham Manea. Sie hält eine Zweistaatenlösung heute nicht mehr für realistisch, sondern glaubt eher an eine Konföderation.

Für Palästinenser:innen sei die Frage nach der konkreten Staatsform nicht prioritär, vermutet Berlowitz. «Sie möchten ihre Freiheit, ihre Würde. Erst dann kann man über die Staatsform reden.» Der Anschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat sie in ihrem Ziel bestärkt, dass eine andere Gesellschaft geschaffen werden muss. Bei Elham Manea hat der Anschlag Scham ausgelöst. «Wenn ich jetzt nichts sage, bin ich Teil derjenigen, die das bejubeln.» Auch wenn sie für ihre Haltung angegriffen wird, gibt es auch für sie «nichts anderes, als dranzubleiben». Sie hofft «dass wir in unserem Leben den Frieden noch erleben werden, aber es braucht ein Wunder».

* Shelley Berlowitz, geboren in Tel Aviv, aufgewachsen in der Schweiz, ist Historikerin, Mitglied beim Verein «Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina), Autorin des Buches «Die Erfahrung der Anderen», Konfliktstoff im palästinensisch-israelischen Dialog.

** Elham Manea, in Ägypten geboren, jemenitisch-schweizerische Doppelbürgerin, ist Titularprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, Beraterin für staatliche und internationale Organisationen in den Bereichen Frauenrechte, Politik und Konfliktlösung. Sie engagiert sich für einen humanistischen Islam.

Der Weltgebetstag Schweiz ist Teil einer weltweiten Bewegung von Frauen aus vielen christlichen Traditionen. Jedes Jahr am ersten Freitag im März laden Frauen zum Feiern eines gemeinsamen Gebetstages ein. Die Liturgie wird jedes Jahr von einem Frauenkomitee aus einem anderen Land gestaltet. 2024 stammt die Liturgie aus Palästina. Die Wahl stand schon vor dem Angriff der Hamas auf Israel fest.