Pater Christian Rutishauser in der Jesuitenbibliothek in Zürich (2018). Foto: Keystone/Samuel Schalch.
«Es geht darum, innerlich frei zu werden»
Interview mit Christian Rutishauser über christliche Spiritualität: schwindendes Wissen darum und steigendes Interesse daran sind kein Dilemma.
Pater Christian Rutishauser, der Vorsteher der Schweizer Jesuiten, lebt in Zürich und ist auch im Lassalle-Haus tätig. Dort laufen die Vorbereitungen für den nächsten Lehrgang «Christliche Spiritualität». Ein Interview darüber, dass sich das wachsende Interesse an diesem Thema und das schwindende Wissen um die eigene christliche Tradition nicht entgegenzuwirken scheinen.
Von Mario Galgano
«pfarrblatt»: Schon lange gibt es im Lassalle-Haus Weiterbildungen zu christlicher Spiritualität. Lässt sich Spiritualität lernen?
Die Frage ist, was man unter Spiritualität versteht. Ich würde sagen: Spiritualität ist ein Leben, das sich bewusst für das Wirken des Heiligen Geistes öffnet und sich von ihm prägen lässt. Spiritualität kommt von Spiritus Sanctus. Das bedeutet, Spiritualität ist Frömmigkeit im umfassenden Sinn. Spirituell ist ein bewusstes christliches Leben. Wenn man Glück hat, hat man das und wie man den Alltag auf Gott bezieht, bereits als Kind etwas gelernt. Aber Erwachsene brauchen neue Formen. Der Kinderglaube hält dem säkularen, postmodernen Leben nicht stand. Spirituelles Leben muss neu eingeübt werden.
Können Erwachsene Spiritualität auch ohne Vorwissen lernen?
Das geht sogar sehr gut. Der Mensch hat das Bedürfnis nach Sinn. Die Frage der Transzendenz ist in ihm wach. Er sucht danach, will zum Beispiel beten und kann nicht. So gilt es, etwa Meditationsformen einzuüben. Das Beste ist, auf andere Menschen zu schauen, wie sie geistlich leben. Auf diese Weise steigt man langsam ins Üben ein. Exerzitium, Üben, ist ein altes christliches Wort. Dabei geht es nie ohne Wissen. Es braucht die Lektüre geistlicher und theologischer Texte, auch der Bibel.
Vorwissen und Wissen sind nicht dasselbe. Wie kann man spirituell lernen, wenn man nie von christlichen Mystikern gehört hat? Lässt sich die heutige Sehnsucht nach Spiritualität mit jener von Mystiker*innen verbinden?
Das lässt sich sehr gut verbinden. Bei Teresa von Avila zum Beispiel ist die äussere Tradition erstarrt, und sie erlebt von innen her einen Aufbruch. Eine mystische Quelle erschliesst sich ihr. Der moderne Glaubenszeuge Dietrich Bonhoeffer wiederum ringt sich zu einem persönlichen Glaubensvollzug durch, selbst wenn die Tradition wegbricht und ihm die Unkultur der Nazis entgegenschlägt. Bei beiden haben Konflikte dazu geführt, dass sie eine Innerlichkeit gesucht haben, um daraus zu leben. Das ist eine Situation, die wir auch heute erleben. Hier passt Karl Rahners Wort: Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein. Das heisst nicht, dass man besondere Visionen haben muss. Es gilt vielmehr, sich das Evangelium existenziell anzueignen, wenn die gesellschaftlichen Formen wegbrechen. Gerade weil in der säkularen Gesellschaft die alte Frömmigkeit wegfällt, ist die Sehnsucht nach Spiritualität so gross.
Wie können uns Mystiker*innen heute etwas zu Spiritualität vermitteln? Was bringt es, sich mit ihren «alten» Schriften auseinanderzusetzen?
Christliche Spiritualität heisst, sich mit Christus auseinanderzusetzen. Es gibt keine Auseinandersetzung ohne die Heilige Schrift. Die Bibel ist 2000 Jahre alt. Doch sie hat eine grosse Aktualität. Unser Lehrgang ist daher so aufgebaut, dass wir bei der biblischen Spiritualität beginnen. Es geht dann weiter mit der Spiritualität in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit. Die Jahrhunderte haben verschiedenste Formen von Spiritualität und Frömmigkeit hervorgebracht. Einiges ist überholt, anderes kann neu entdeckt werden. Von ihnen zu lernen, ist das Praktischste. Die Geschichte der Tradition ist eine grosse Schatzkammer. Das ist viel besser als abstrakte Theorien.
Das Lassalle-Haus ist international bekannt. Stellen Sie Unterschiede zwischen schweizerischen und ausländischen Herangehensweisen zur Spiritualität fest?
In Westeuropa gibt es, grob gesagt, eine Zweiteilung. Die Grenze geht den Kulturen entlang: Der romanische Kulturraum auf der einen Seite und der angelsächsische auf der anderen. In romanischen Ländern ist die Spiritualität viel stärker mit Texten, der christlichen sowie kirchlichen Tradition verbunden. Auch die Liturgie spielt eine wichtigere Rolle. Der angelsächsische und germanische Raum ist individualistischer. Er orientiert sich mehr an der eigenen Erfahrung sowie an der Natur. Spiritualität ist da oft auch weniger kirchlich. Auch in der Schweiz zeigen sich diese Unterschiede.
Es gibt also einen spirituellen Röstigraben?
Genau. Der Unterschied zwischen der Deutschschweiz und Süddeutschland ist kleiner als im Vergleich zur Westschweiz oder dem Tessin.
Das Lassalle-Haus ist jesuitisch geprägt. Ignatius von Loyola, der Ordensgründer der Jesuiten, hat die spirituellen Exerzitien eingeführt. Inwieweit ist seine Spiritualität Teil der katholischen Kirche?
Exerzitien sind ein spiritueller Übungsweg. Ignatius sagt, dass es Übungen für den Leib gibt – den Sport – und Übungen für die Seele. Seit dem 19. Jahrhundert sind die ignatianischen Exerzitien der katholische Übungsweg schlechthin. Nach dem Konzil vor gut 50 Jahren hat man die Exerzitien erneuert: weniger geistliche Vorträge, stattdessen mehr persönliche Meditation und geistliche Begleitung. Viele Pfarreien bieten nun auch Exerzitien im Alltag an. Die Meditation von biblischen Texten und auch des eigenen Lebens wird eingeübt. Wir können Exerzitien mit dem Jesus-Gebet oder dem Herzensgebet vergleichen, wie wir sie aus der Ostkirche kennen. Auch in den Exerzitien sind Stille und Kontemplation, Beten mit einem Bibelwort oder das Jesus-Gebet unerlässlich.
Worum geht es bei dieser Art von Spiritualität?
Ignatius von Loyola sagte einmal: Spirituell leben heisst, sein Leben ordnen. Es geht darum, innerlich frei zu werden. Aus dieser Freiheit heraus soll jede*r die eigene Berufung finden, die persönliche Art und Weise, Christus nachzufolgen.
Was liegt Ihnen besonders am Herzen, wenn Sie an Spiritualität denken?
Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen zu sich selbst und zu Gott finden. Mir liegt auch die Erneuerung der Kirche am Herzen. Sie muss vom Evangelium her kommen, von Menschen, die im Alltag ihren Glauben relevant leben. Eine Gemeinschaft von erneuerten Menschen schwebt mir vor. Dazu braucht es eine neue geistliche Sprache, einen Glauben, der zeitgemäss Ausdruck findet. Psychologische Erkenntnisse sollen integriert werden, aber auch kritisches Denken. Kurz, mir geht es um Erneuerung aus einer Geist- und Christuserfahrung, welche die Fragen und Erfahrungen der heutigen Zeit ernst nimmt.
Informationen zum Zertifikatslehrgang «Christliche Spiritualität» im Lassalle-Haus