Reliquienraum und Sakristei im Bischofshaus Limburg. Foto: kna-bild

«Es gibt genug Gläubige, die an Gott glauben und an der Kirche verzweifeln»

14.11.2018

Ein Gespräch mit der Pastoraltheologin Prof. Stephanie Klein zu möglichen Strukturreformen in der Kirche

Papst Franziskus kritisiert den Klerikalismus, rüttelt am Machtapparat Vatikan. Innerhalb der Kirche werden Strukturen infrage gestellt. Welche Strukturen sind gemeint, und was ist falsch am Klerikalismus? Stephanie Klein, Professorin für Pastoraltheologie an der Universität Luzern, stellt sich diesen Fragen.


«pfarrblatt»: Aufgrund der sexuellen Verbrechen innerhalb der Kirche geraten kirchliche Strukturen in den Fokus. Welche sind hier gemeint?

Stephanie Klein: In den Diskussionen werden immer wieder die hierarchischen, zentralistischen und klerikalen Strukturen der Kirche genannt. Der Ausschluss der Frauen von der Weihe und aus dem Klerus, die Koppelung von Weihe mit Leitung und Entscheidung und dadurch die Sakralisierung von Entscheidungen, das Fehlen der Gewaltenteilung, die eine wichtige Grundlage des modernen demokratischen Selbstverständnisses darstellt, das alles schadet der Glaubwürdigkeit der Kirche in der Gesellschaft bei denen, für die Demokratie, Mitbestimmung und Gleichberechtigung eine große Errungenschaft und einen hohen Wert darstellen.

In den Analysen zur sexualisierten Gewalt in der Kirche wird der ausschliesslich männliche Klerus mit seinen Erziehungssystemen und Beziehungsnetzen und seinem Rechtfertigungsdruck nach aussen als ein Bedingungsfaktor der Ermöglichung und Verdeckung sexueller Gewalt in der Kirche genannt.

Was an den kirchlichen Strukturen muss sich konkret verändern?

Die klerikale und männliche Struktur muss sich ändern. Das Festhalten an dieser Struktur und ihre Sakralisierung haben fatale Auswirkungen, denn sie rückt eine geschichtlich gewordene kirchliche Struktur an die Stelle einer hohen Glaubenswahrheit. Wir müssen den Blick auf die Bibel und das Evangelium wiedergewinnen, wie dies ja bereits auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil begonnen wurde, und von dort her die zentralen Glaubensfragen in der heutigen Gesellschaft angehen – sicher auch in Auseinandersetzung mit den vielfältigen Traditionen der Kirche.

Aber zurzeit werden die Problemlösungen um die Bewahrung der klerikal-männlichen Struktur der Kirche herum gesucht. Der emeritierte Pastoraltheologe aus Fribourg, Leo Karrer, hat das Dilemma so beschrieben: Alle und alles soll sich ändern: die Menschen sollen sich ändern, die Gläubigen sollen sich ändern, die Pfarreien sollen sich ändern, ja sogar der liebe Gott soll mehr Priester schicken - das einzige, was sich nicht ändern darf, ist die Priesterstruktur der Kirche.

Papst Franziskus geisselt in diesem Zusammenhang den Klerikalismus. Was muss man darunter verstehen?

Unter Klerikalismus kann man verstehen, dass das Priesterliche zum Selbstzweck geworden ist und nicht mehr der Verehrung Gottes und dem Dienst an den Menschen dient. Wenn die Person und Rolle des Priesters aber sakralisiert wird, dann wird der Priester in die Nähe Gottes gerückt.

Wie unterscheidet sich Klerikalismus bei Priestern und Gläubigen?

Es gibt Nicht-Priester, die gerne in die Rollen von Priestern schlüpfen und priesterliche Aufgaben ausfüllen. Das Fehlen von Priestern erfordert ja die Übernahme vieler Aufgaben, die früher Priester innehatten, durch Nichtpriester. Man muss dazusagen, dass viele Menschen auch wirklich eine Berufung zum Priestertum spüren und oftmals auch haben, diese aber aus ganz verschiedenen Gründen nicht realisieren können.

Der Jesuit Klaus Mertes spricht von «männerbündischen Netzwerken». Das bisherige Priesterbild scheint diese zu begünstigen. Auf was gründet dieses Priesterbild?

Die Erziehung in Knabenschulen und dann anschliessend in Priesterseminaren hat solche Netzwerke sehr begünstigt. Es ist auch der Ausschluss der Frauen aus dem Klerus und der kirchlichen Hierarchie sowie die Gehorsamsstruktur, die eine „Eingeschworenheit“ fördert.

Würdenträger mit Römerkragen, Ordensleute mit Ordenstracht, der Papst im weissen Gewand sprechen über den falschen Klerikalismus und wirken über ihre Bekleidung klerikal. Wirkt das nicht schon per se unglaubwürdig?

Nein, nicht unbedingt. Es führt nicht weiter, zentrale Fragen durch einen Kleidungsstreit zu überdecken, und die Frage der Glaubwürdigkeit der Kirche hängt nicht an Kleidungsfragen. Wo sich Menschen hinter einer Rolle oder einem Amt, hinter Ritualen oder auch einem Kleidungsstück verstecken, wo sie nicht mehr als Person für ihren Glauben einstehen und sichtbar sind, da werden sie unglaubwürdig.

Als Minimalforderungen gelten heute: Pflichtzölibat abschaffen, Diakonie der Frau einführen, Theologinnen und Theologen als Gemeindeleitende nicht als Notlösung sehen, gemischte Teams bilden, klerikale Macht verteilen. Welches sind die Prioritäten aus Sicht der Pastoraltheologie?

Es lässt sich keine Prioritätenliste aufstellen, weil vieles miteinander zusammenhängt. Priorität hat der Auftrag, das Heil Gottes zu verkünden und den Menschen erfahrbar zu machen. Für dieses Heil soll die Kirche Zeichen und ein Werkzeug sein. Die Frage nach den Strukturen der Kirche muss diesem Auftrag zugeordnet werden. Das heisst, die Kirche muss ihre Strukturen so weiterentwickeln, dass diese ihren Auftrag in der heutigen Gesellschaft zeichenhaft sichtbar machen.

Für heute könnte das bedeuten: geschwisterliche Strukturen statt brüderliche, Strukturen der Integration und Förderung des geistlichen und menschlichen Wachstums anstatt von Abgrenzung und Ausgrenzung. Hiervon spricht z.B. auch Papst Franziskus.

Es gibt mittlerweile in Bezug auf Missbrauch Richtlinien, präventive Kurse, unabhängige Supervision, verschärfte Vorschriften und Anzeigepflicht, die Täterschaft wird konsequenter angefasst, die Vorgesetzten in Verantwortung genommen. Man wird das Gefühl nicht los, dass diese Massnamen auch dazu dienen, nichts am strukturellen Problem verändern zu müssen.

All diese Massnahmen sind sehr wichtig. Aber der Umgang der Kirche mit den Missbrauchsskandalen kann sich nicht auf verschärfte Vorschriften beschränken. Es bedarf einer theologischen und spirituellen Auseinandersetzung mit dem Missbrauchsgeschehen in der katholischen Kirche weltweit und Konsequenzen, die sich auch in veränderten Strukturen ausdrücken.

Viele Reaktionen verharren noch in einer Abwehrhaltung, manchmal auch in Selbtmitleid über die Ungerechtigkeit der Medien, sodass die Frage nach der Veränderung von Strukturen nicht wirklich angegangen wird. Es bedarf einer wirklichen ernsthaften Auseinandersetzung, wie die Kirche sie ja selbst im Sakrament der Busse und Versöhnung zeichenhaft explizit macht: Es bedarf angesichts der massiven Verletzungen in der Kirche der ernsthaften Reue, der Busse und der Umkehr, die sich auch in strukturellen Veränderungen ausdrücken muss.


Traditionalisten geben gar offen dem II. Vatikanischen Konzil die Schuld. Die Öffnung hin zur Welt sei schuld an Priester- und Gläubigenmangel, an Missbrauchsskandal und Werteverlust. Das Konzil sei gescheitert.

Ohne das Konzil wäre die Kirche von dem Wandel der Gesellschaft völlig abgehängt worden. Die Kirche muss sich auf die Menschen in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Situationen einlassen. Das bedeutet nicht, dass sie sich den gesellschaftlichen Strömungen anpassen soll, ganz im Gegenteil: Sie muss ein Korrektiv sein, wo Entwicklungen Menschen schaden und muss den Verlierern der gesellschaftlichen Entwicklungen beiseite stehen.

Doch das Kriterium für die Gesellschaftskritik ist nicht eine alte Struktur der Kirche, sondern das Heil Gottes, und die Kirche muss neue Ausdrucksweisen und Strukturen finden, um dieses Heil zeichenhaft sichtbar zu machen. Im Übrigen ist es gar nicht sicher, in welcher Weise es den viel zitierten Werteverlust, „Gläubigenmangel“ und „Priestermangel“ nun wirklich gibt. Das Entsetzen über Gewalt und Missbrauch in der Kirche zeugt von einem hohen Bewusstsein von Werten, an denen die Kirche gemessen wird.

Dasselbe gilt für den Umgang der Kirche mit Finanzen und Besitz, für ihre Transparenz und Konfliktfähigkeit. Auch der sogenannte Gläubigenmangel könnte eine verzerrte Wahrnehmung sein, die sich aus dem Blick auf den Teilnahmeverhalten von Kirchgängern speist. Sehr viele Menschen sind auf einer Suche nach Gott und verstehen sich selbst als gläubige.

Es gibt sehr viele Gläubige, die in nur lockerer oder zeitweilig an die kirchliche Institution anbinden und hier sichtbar werden. Die Glaubensbiographien auch sehr kirchenverbundener Menschen verlaufen heute oftmals in Wellen von Nähe und Distanz zu den kirchlichen Angeboten.

Es gibt genug Gläubige, die an Gott glauben und an der Kirche verzweifeln und deshalb aus der Kirche austreten. Und schliesslich gibt es wahrscheinlich auch mehr Priesterberufungen, als es Priesterweihen gibt. Vielleicht hat Gott die Bitte der Kirche um mehr Priesterberufungen ja schon längst erhört. Und so stellt sich die Frage, ob die Kirche nicht ernsthaft über ihren Umgang mit Priesterberufungen nachdenken und Strukturen ändern muss.

Seit der Pillenenzyklika hat die römische Kirche ihre Autorität in Sexualmoralfragen endgültig verloren, weil das Pillenverbot nicht gegriffen hat. Die Missbrauchsverbrechen gaben den Rest. Gibt es ein Entrinnen aus diesem Scherbenhaufen?

Papst Franziskus hat ja einen Weg eingeschlagen, der der Weltkirche eine neue Richtung weist. Er zeigt eine differenzierte Hermeneutik im Umgang mit den kirchlichen Lehren auf, die dem Gewissen, dem sensus fidei und der eigenen verantworteten Entscheidung der Gläubigen einen hohen Stellenwert einräumt. Er ermutigt die Gläubigen zu einem mündigen Christsein.

Und er ermutigt auch die Bischöfe und Verantwortlichen der Kirche zu einer sorgfältigen pastoralen Unterscheidung und zu einem Blick auf jene Aspekte im Leben, die das menschliche und geistige Wachstum fördern, anstatt sich auf Fehler und Ausschlusskriterienzu fixieren. Nun liegt es ja auch an uns, diesen Blickwechsel zu vollziehen.


Vor 50 Jahren versuchten Theologen die kirchliche Macht aufzubrechen, hin auf Menschensorge. Die Befreiungstheologie wurde entwickelt. In grossen Teilen ist sie heute an der kirchlichen Machtstruktur zerbröckelt. Wie konnte das geschehen?

Den Befreiungstheologen ging es nicht um Fragen der kirchlichen Macht, es ging ihnen nicht um innerkirchliche Fragen, sondern um das Heil der Ärmsten und Bedürftigen. Nicht immer wurden sie dabei von den kirchlichen Institutionen unterstützt, manchmal sogar durch sie behindert, das ist richtig. Heute gibt es Befreiungstheologien weltweit.

Sie sind aber sehr vielfältig geworden, sowohl in ihren theologischen Anliegen und Optionen als auch in ihren Organisationsformen. Es hat sich herausgestellt, dass die Phänomene der Armut und des Unheils sehr komplex sind und häufig auch wenig offensichtlich sind.

Deshalb sind die Befreiungstheologien vielleicht nicht mehr so sichtbar. Aber es gibt indigene Bewegungen und Theologien, es gibt postkoloniale und dekoloniale Bewegungen und Theologien, es gibt christliche Frauenbewegungen und feministische Theologien, es gibt christliche Umweltbewegungen und Bewegungen, die sich um das Leben der Tiere und um die Schöpfung sorgen, um nur einige zu nennen.


Haben die Missbrauchsskandale auch eine Wirkung auf die Pastoraltheologie und Ihre Arbeit? Gibt es neue Schwerpunkte in der Ausbildung?

Die theologische Fakultät hat in der Forschung und der Lehre die Missbrauchsskandale aufgegriffen und kritisch reflektiert. Es gab öffentliche Vorlesungen sowie ein Forschungsprojekt im Auftrag der Katholischen Kirche im Kanton Luzern zu Gewalt und Missbrauch in Kinderheimen in kirchlicher Trägerschaft. Die Studie „Hinter Mauern“ hat große Wellen in der Öffentlichkeit geschlagen, es gab eine Reihe öffentlicher Veranstaltungen dazu.

Die Fakultät hat auch Guido Fluri, der selbst als Kind fremdplatziert war und die Wiedergutmachungsinitiative gegründet hat, 2017 mit der Otto-Karrer-Vorlesung betraut. Die Menschen sind wirklich dankbar, dass das Thema aufgegriffen und bearbeitet wurde und nicht weiterhin verschwiegen wurde, um der Kirche keinen Schaden zuzufügen.

Es hat sich herausgesellt, dass das Schweigen ist sehr viel schädlicher als die ehrliche Auseinandersetzung. Erst dadurch kann sich wirklich etwas ändern, dass man die Missstände ansieht und sich mit ihnen auseinandersetzt. Dann kann glaubhaft gemacht werden, dass die Kirche zu einer Veränderung bereit ist, und es kann vielleicht auch Vertrauen zurückgewonnen werden. Die Fragen von Missbrauch und Macht sind auch immer wieder Themen in meiner pastoraltheologischen Lehre, ich habe dazu publiziert und ich werde auch weiter zu ihnen forschen.

Interview: Jürg Meienberg

 

 

 

 

Dr. Stephanie Klein, Professorin für Pastoraltheologie an der Universität Luzern.