«Solange Menschen nur Nebensache sind, funktioniert Frieden nicht». Pater Antoine Abi Ghanem. Foto: Ruben Sprich
«Es ist wichtig, wie wir miteinander reden»
Pater Antoine Abi Ghanem im Gespräch
Nationalismus, säkulare oder religiöse Ideologien und Militarismus funktionieren auch im 21. Jahrhundert. Haben Pazifismus und Gewaltfreiheit ausgedient? Antoine Abi Ghanem, ehemaliger Attaché für Abrüstung und Sicherheitsfragen des Heiligen Stuhls bei der UNO und Priester in der Berner Pfarrei Dreifaltigkeit, im Gespräch.
Interview: Anouk Hiedl
«pfarrblatt»: Sie stammen aus dem Libanon. Das Land hat in den letzten 60 Jahren einen langen Bürgerkrieg und den Einmarsch der syrischen und israelischen Armee miterlebt. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Antoine Abi Ghanem: Ich habe vom Krieg gelernt. Davon zu reden ist etwas Anderes als ihn zu erleben. Menschen zu kennen, die getötet wurden oder Familie und Freunde verloren haben, führt zu einer anderen Perspektive als in den Medien davon zu erfahren. Der Libanon galt zwischen 1950 und 1960 als Bank, Universität und Krankenhaus des Nahen Ostens und war als «Schweiz des Orients» bekannt. Ich habe politische Philosophie und Philosophie in Paris und Tübingen studiert, um eine Denkweise zu erlangen, mit der man in dieser pluralistischen Gesellschaft gewaltfrei Frieden schaffen kann.
«Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.» Noch immer werden ganze Völker in den Krieg geschickt…
Wofür wollen Menschen heute noch sterben? Ausserhalb Europas wird der Glaube als Teil der Identität noch eher verteidigt. Oft werden Religionen dazu benützt, um Menschen in den Krieg zu schicken. Meistens geht es aber um politische Fragen und Ziele. Kriege entstehen aus macht- oder geopolitischen Interessen. Machthabende verstehen es, Menschen zu manipulieren und die Gegenpartei mit Parolen und Hassreden schlecht zu machen. Es ist wichtig, wie wir miteinander reden. Sprache ist wesentlich. Doch sie ist nicht neutral.
Es gibt eine ethische Dimension, die auch die Medien in Demokratien berücksichtigen müssen. Demokratie sucht nach Mehrheit, dem «common good», nach Gerechtigkeit und Frieden. Das versteht Europa mit dem Ukrainekrieg jetzt vielleicht besser. Frieden ist nicht ewig, wenn soziale und politische Gerechtigkeit zerstört werden. Am Frieden wird jeden Tag gebaut, nur unsere alltägliche Haltung macht ihn haltbarer. Sonst wachen wir eines Tages auf und haben den Krieg vor der Tür.
Waffenlieferungen in Kriegsgebiete sind ein kontroverses Thema. Wie stehen Sie dazu?
Aus Sicht der UNO haben die Länder bei einem Angriff das Recht auf Selbstverteidigung. Wenn man bisherige Kriege studiert, sieht man, dass die Menschen danach viel weniger akzeptieren als sie vorher verlangt haben. im Vergleich zu den Konsequenzen der Zerstörung werden politische Ziele nebensächlich, die Summen für den Wiederaufbau sind horrend. Die Ukraine darf sich verteidigen, klar, sie ist in einer Struktur, in der es noch keine Aussicht gibt.
Aus einer Friedensperspektive heraus sind Waffen keine Lösung. Man muss versuchen, diesen Teufelskreis mit Dialog und Diplomatie zu öffnen. Dazu braucht es eine Vermittlerposition, das kann die UNO, das Rote Kreuz oder die Kirche sein. Wir dürfen nicht aufgeben, irgendwann sagen beide Parteien zu. Diese Hoffnung, und das Vertrauen in eine höhere, liebevolle Instanz, muss bleiben, sonst haben wir keine Perspektive.
Wie gelingt es, gewaltfrei Frieden zu schaffen?
Es braucht Versöhnung. Und wir müssen gemeinsame Interessen für gemeinsame Probleme entwickeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Dialog zwischen den gegnerischen Parteien wieder in Gang. Gemeinsam und mit Hilfe der USA bauten sie Europa wieder auf. Wer hätte 1945 gedacht, dass junge Menschen heute europaweit reisen und es internationale Austauschprogramme wie Erasmus geben würde?
Frieden – wie auch Kriege – bauen auf Erziehung auf. Es gilt früh aufzubauen, wie man über Menschen redet und sie wahrnimmt. In der Familie und in der Schule kann man lernen, Diversität zu akzeptieren und die Würde anderer zu achten.
Inwiefern haben Sie das im Nahostkonflikt erlebt?
Frieden hat im Nahen Osten einen sehr hohen Stellenwert. Er ist die Voraussetzung, um glücklich zu sein und die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. In Krisengebieten kann man nicht philosophieren oder Kunst erschaffen. Für relativ glückliche Völker brauchen wir den Frieden – er ist eine Notwendigkeit, keine Option.
Im Nahen Osten haben bestimmte Schichten verstanden, dass Jugendliche im Krieg keine Zukunft haben, sie können dem System beitreten oder emigrieren. Das Abraham-Abkommen von 2020 zwischen den Arabischen Emiraten und Israel hatte politische und geopolitische Gründe. Doch es war auch ein Schritt, bei dem sich Menschen begegneten und als solche wahrnehmen konnten. Das schafft Perspektiven und Hoffnung, um weiter am Frieden zu bauen.
Wie haben Sie das bei der UNO eingebracht?
Bei den drei fundamentalen Ideen des Heiligen Stuhls zur Abrüstung steht der Respekt vor der Würde, Freiheit und Autonomie des Menschen vor jeglichen Macht- und Strukturansprüchen. Solange Menschen im Nahen Osten oder sonst wo nur Nebensache sind, funktioniert Frieden nicht. Zweitens dürfen sich Länder im Rahmen humanitärer Rechte verteidigen – dabei ist nicht alles erlaubt. Und drittens: Waffen und Gewalt schaffen keinen Frieden.
Das römische Sprichwort «Wenn du Frieden möchtest, bereite den Krieg vor» ist falsch. Der Heilige Stuhl folgt Papst Paulus VI.: «Entwicklung ist der andere Name des Friedens». In Krisengebieten heisst das, Schulen, Krankenhäuser, politische Partizipation usw. aufzubauen. Global heisst es, international zusammenzuarbeiten, bei Pandemien, der Klimaerwärmung oder den Konsequenzen des Ukrainekriegs. Solche Probleme sind immer komplex, dennoch müssen wir versuchen, alle Dimensionen zu berücksichtigen. Wenn wir Frieden schaffen wollen, brauchen wir eine Politik der Kooperation im allgemeinen, kollektiven Interesse.
Der Heilige Stuhl hat bei internationalen Organisationen wie der UNO einen Beobachterstatus. Was bedeutet das?
Der Heilige Stuhl hat die gleiche Rolle wie alle anderen Mitgliedstaten, kann aber nicht abstimmen. Er hat sich für diesen Status entschieden, um seine Freiheit und Neutralität zu wahren. Er vertritt weder ökonomische noch nationale Interessen, sondern jene der Menschheit. Dazu setzt er sich insbesondere für die Würde von Kriegs- und Konfliktopfern ein.
In einigen Bereichen, wie dem der Migration oder Abrüstung, hat der Heilige Stuhl Konventionen mitunterschrieben und ratifiziert. Damit hat er dieselben Rechte und Pflichten wie alle anderen Staatsparteien. Er arbeitet mit ihnen, dem IKRK und NGOs zusammen und setzt sich in der Abrüstung gegen Landminen, Strommunition, Cyberkriege und Nuklearwaffen ein. Der Heilige Stuhl ist als Beobachter nicht isoliert, sondern ein gefragter Partner mit internationalen Beziehungen.
Ökumenische Herbsttagung 2022: Frieden schaffen ohne Waffen?
Mit Pater Antoine Abi Ghanem
Samstag, 29. Oktober, 08.45 bis 16.00, Kirchgemeindehaus Johannes, Wylerstrasse 5, Bern.
Programm und obligatorische Anmeldung (bis 21. Oktober)