«Und so jemand erwartet, dass Frauen ihm folgen?» Donna Leon über Papst Franziskus. Foto: Regine Mosimann/Diogenes Verlag

«Es wäre schön, wenn das wahr wäre»

02.06.2022

Erfolgsautorin Donna Leon über Glauben und ihr neustes Buch

Sie ist eine der erfolgreichsten Krimiautorinnen im deutschsprachigen Raum. Jetzt erscheint ihr neuer Roman «Milde Gaben». Donna Leon über Kirche, Krimis und quakende Frösche.

Interview: Constanze Broelemann*

Sie haben mit Commissario Guido Brunetti jemanden erfunden, der das Böse bekämpft. Glauben Sie, das Gute wird am Ende über das Böse siegen?

Donna Leon: Meine Mutter war irische Katholikin und ging in die Kirche. Ich selbst habe mich schon als Teenager von der Kirche distanziert. Kurz vor ihrem Tod fragte ich meine Mutter, ob sie an Jesus und seine Geschichte glaube. Kurz überlegte sie und sagte dann: «Es wäre schön, wenn das wahr wäre.» Und so ist es auch mit dem Sieg über das Böse. Es wäre schön, wenn Al Capone ins Gefängnis käme. Aber viele dieser Typen kommen eben nicht ins Gefängnis. Und so verhält es sich auch in meinen Büchern.
 
Im neu erschienenen Brunetti-Buch heisst es an einer Stelle, dass die Menschen ihren Glauben verloren hätten. Hat diese Aussage Gültigkeit über Ihren Roman hinaus?

Ich denke schon, dass die Menschen den Glauben in die Religion verloren haben. Ich kann jedoch nur für die katholische Kirche sprechen, die mich immer umgeben hat. Diese sich wiederholenden Heucheleien, die Missbräuche von Menschen und dann dieser Papst. Er scheint jedermanns Freund. Aber die Leute vergessen, dass er Jesuit ist. Ich habe das nicht vergessen. Und auch dass er vor vielen Jahren sagte, Frauen sollten nicht in ein Priesteramt kommen. Und so jemand erwartet, dass Frauen ihm folgen?

Wie ist das Verhältnis der modernen Italienerinnen und Italiener zur römischen Kirche?

Die Kirchen sind leer bis auf ein paar alte Leute. Die Menschen suchen woanders nach Spiritualität. Das Bedürfnis danach ist historisch belegt. Wir sehen es an Funden wie der knapp 30 000 Jahre alten Statue der Venus von Willendorf, die schon sehr früh ein Kultobjekt war. Ich denke, in uns Menschen ist etwas, was eine Erklärung will. Und die Religionen haben diese Aufgabe in der Vergangenheit erfüllt.

Der neuste Fall von Brunetti heisst «Milde Gaben». Worum geht es?

Der englische Titel lautet ­«Give Unto Others». Die Menschen denken sofort an die Bibel, aber dort steht «do unto others» im Sinne von: «Was ihr wollt, dass andere euch tun, das tut ihr ihnen.» Bei mir geht es also um das Geben. Jedenfalls sind viele Menschen gut und grosszügig. Die meisten wünschen sich eine bessere Welt. Einige arbeiten aktiv daran, ein Grossteil sagt, so kann es nicht weitergehen, tut aber nichts. Ein Teil bemerkt dieses menschliche Bedürfnis zu helfen und nutzt es aus. Ich habe die Idee für mein Buch von einem Freund. Er erzählte mir von einer Wohltätigkeitsorganisation, die am Ende keine war.

Und dann haben Sie seine Geschichte aufgeschrieben?

Ab einem gewissen Punkt bat ich ihn, mir nicht mehr zu erzählen, und sagte: Ich weiss, was ich aus dieser Geschichte machen will. Mir ist es wichtig. dass in keiner Geschichte von mir konkrete Rückbezüge zur Realität zu finden sind.

Wie läuft bei Ihnen der Prozess der Ideenfindung für ein Buch ab?

Einmal sah ich eine junge Frau, vielleicht drei Sekunden lang. An ihrem Gang, ihrer Bewegung las ich ab, dass sie jung ist. Und dann sah ich ihr Gesicht. Ich bemerkte, dass sie sehr viele Liftings gehabt haben muss. Und ich dachte: Da ist eine junge Frau, die sich sehr oft hat liften lassen. Warum ist das so? Und das reicht mir, um eine Krimigeschichte zu entwickeln.

Sind Sie fasziniert von mensch­lichen Schwächen wie Gier, Neid, Begehren oder Macht?

Das sind wir alle. Wenn wir zum Beispiel zum Abendessen gehen und hören, dass sich John und Mary nach 43 Ehejahren scheiden lassen, wollen wir doch wissen, weshalb. Mich interessiert die Frage, warum Menschen tun, was sie tun.

Was macht einen guten Krimi aus?

Ein guter Krimi braucht ein gutes Motiv. Es ist nicht so interessant, wer eine Tat begangen hat. Es ist vielmehr wichtig, warum jemand ein Verbrechen begeht.

True Crime, also Geschichten über wahre Verbrechen, haben im Moment viele Fans. Was halten Sie persönlich davon?

Ich kenne True Crime aus meinen Kindertagen in Amerika. Auf mich wirkt der Konsum dieser Geschichten, als ob die Menschen nicht genug bekommen könnten: Die Leiche im Gefrierschrank muss wirklich existiert haben. Das ist schon eine sehr merkwürdige Unterhaltungsform, einem Menschen dabei zuzusehen, wie er jemand anderen umbringt. In einem meiner frühesten Romane habe ich das Thema True Crime aufgenommen. Commissario Brunetti entdeckte, dass eine Person deshalb ermordet wurde, weil sie Filme drehte, in denen jemand tatsächlich umgebracht wurde.

Trotz so viel Unerfreulichem ist Ihr Commissario doch ausgesprochen gebildet und menschlich. Warum?

Als ich mein erstes Buch schrieb, wusste ich, dass ich mit diesem Mann viel Zeit verbringen würde. Und ich wollte das mit jemandem tun, den ich mag. Ich wollte nicht einen dieser Ermittler mit den schlechten Anzügen und dem miesen Essen. Sondern einen Protagonisten, der ein Leben hat und sich für mehr interessiert als nur dafür, das Böse zu jagen.

Wie lange arbeiten Sie an einem Buch?

Im Ganzen etwa ein Jahr. Ich schreibe meistens eine Seite pro Tag. Aber nicht täglich. Ich arbeite, wenn es mir Freude macht. Freude bei der Arbeit ist wichtig. Ich denke, dass auch die Nonnen im Kloster im Val Müstair gern um drei Uhr in der Früh aufstehen, um zu singen. Weil es ihnen Freude macht, ihren Gott zu loben.

Sie wohnen inzwischen im Val Müstair. Inspiriert Sie die Gegend?

Meine Geschichten könnten dort nicht stattfinden. Ich verstehe die Sprache der Einheimischen nicht, und ihre Denkweise ist auch anders als meine. Ich finde die Natur natürlich toll. Aber das finden alle. Ausserdem bin ich nicht inspiriert.

Was meinen Sie damit?

Ich arbeite. Ich bin eine Schriftstellerin, keine Künstlerin. Inspiriert ist jemand, wenn er wie Johann Sebastian Bach die Goldberg-Variationen komponiert.

Die Corona-Pandemie ist in Ihrem neuen Buch präsent. Hat Sie diese Zeit verändert?

Nein. Ich erinnere mich, wie ich im Frühjahr 2020 im Lockdown in Zürich feststeckte. Mit einer Freundin machte ich täglich lange Waldspaziergänge. Eines Tages trafen wir auf einen Platz mit vielen Fröschen. Wir hatten solche Freude, die Tiere zu beobachten. Es braucht nicht viel, um mich zu amüsieren.

 

*Dieses Interview erschien zuerst in reformiert.info

 

Donna Leon, 79

Die Schriftstellerin wurde 1942 in New Jersey geboren. Als Studentin verliess sie die USA, um in Italien weiterzustudieren. Später lehrte sie an der Universität in Venedig, wo sie sich 1981 niederliess. Berühmt machten Donna Leon die inzwischen 31 Romane mit Commissario Guido Brunetti. Ihre Bücher wurden in 34 Sprachen übersetzt, auf ihren Wunsch aber nicht ins Italienische. Sie lebt in der Schweiz.

Guido Brunetti

Der gut angezogene und einfühlsame Kommissar Guido Brunetti ist der Pro­tagonist in Donna Leons Kriminalromanen. Seine Ehefrau Paola ist die Tochter eines Grafen aus der Familie Falier, einer der ältesten, wohlhabendsten und einflussreichsten Familien Venedigs. Sie arbeitet – wie die Autorin Donna Leon es früher selbst getan hat – als Professorin für Englische Literatur und ist vom Geist der 68er-Bewegung beseelt. Die gemeinsamen heranwachsenden Kinder Raffaele und Chiara entwickeln in den Romanen einen menschenfreundlichen Enthusiasmus, der mit der korrupten und grausamen Welt des Verbrechens kontrastiert. Die Mutter und die Kinder haben ein inniges Verhältnis zu Paolas Eltern. Hingegen ist die Beziehung des Kom­missars zu seinem Schwiegervater Orazio Falier ziemlich kompliziert. Trotzdem ist der Conte für ihn oft ein wichtiger Informant.