Greenfield 2016. «Lieber sind wir naiv, voller Utopie, als schal.»

Faszination Openair

07.09.2016

Sebastian Schafer versucht eine Einschätzung und zieht verblüffende Vergleiche mit biblischen Einsichten.

Ankommen, das Zelt aufschlagen, Campingstühle in einem Kreis aufstellen. Kaum ist der Festivaleingang passiert, stellt sich dieses besondere Gefühl ein: Die Welt draussen rückt weg, in unbestimmte Ferne, auch das Ende dieser drei oder vier Tage ist nicht in Sicht.

Diese kleine Gemeinschaft hier ist das Zentrum, die Handvoll Menschen, die man mitgenommen hat, und manchmal noch eine Nachtbekanntschaft vom letzten Konzert. Wir sind nicht definiert durch unsere Herkunft, unsere Eltern, unseren Job, unseren Kontostand. Wir sind hier, alle, und gezwungen, uns zu ertragen. Egal wer wir sind. Dieses Ertragen-Müssen funktioniert hier so gut, weil alle teilenden Elemente in den Hintergrund rücken. Alle Eigenschaften, die uns in der alltäglichen Welt teilen, soziale Schichten, Interessengruppen, Bildungsschichten, politische Ausrichtungen... Warum gelingt uns das nur hier, den Blick weiter zu lenken als nur auf die Äusserlichkeiten, die paar banalen Einstellungen, an denen man sich zuerst stösst. Ob jemand Zöllner war oder Hure, egal, am See gesessen und Jesus zugehört haben trotzdem alle gemeinsam. Die Unterteilungen, in die wir uns bewusst oder unbewusst fügen, fallen hier weg. Nur manchmal flackern sie auf, wenn sich die Geister zu sehr scheiden. Ein gemeinsames Bier, und die Verschiedenheiten sind weg.

Die nächste Zigarette wird angezündet, das nächste Bier geöffnet, das nächste Konzert besprochen. Das Ritual des Teilens, sei es Essen, Bier, Zigarette oder einfach die Musik, wird zum Element, das uns alle zusammenhält. Es wird nicht geredet über kleine Dinge, das Studium oder Arbeit, die Gedanken werden gross, schweifen ab. Wie führt man ein gutes Leben? Indem man gerecht handelt? Indem man alles zulässt, niemals Böses mit Bösem vergilt, sich nicht wehrt? Indem man sich auflehnt, mit Kraft einsteht für das, was man als gut empfindet? Büne Huber singt: Löht nech nüt la gfaue. Nie, nie. Und wenn das nun nicht das Gute ist? Was, wenn ich mein ganzes Leben für das Falsche gekämpft habe? Wie weiss ich das? Und wie greife ich den elenden Fdur-Akkord?

Naiv, utopisch, kindisch mögen sie manchmal anmuten, die Diskussionen, die hier geführt werden, über Gott und die Welt, so, als würde hier alles entschieden, von diesem Campingplatz aus. Wenig haben sie mit dem Festival zu tun, aber das spielt keine Rolle. Hat nicht auch Jesus naiv gesprochen? Von Dingen, die so unerfüllbar erscheinen, so weit weg von der Realität ... Einer besseren Welt, einem Königreich des Friedens, wo doch diese Welt so voller Krieg und Hass ist. Und doch, der Raum, der hier geschaffen wird, unabhängig und abgekoppelt vom Alltag und der Welt zuhause, ist wichtig. Lässt uns träumen und philosophieren. Jesus sagte, wir seien das Salz der Erde und fragte, womit kann man es wieder salzig machen, wenn es schal geworden ist? Gar nicht. Lieber bleiben wir naiv, voller Utopie, als schal.

Das Dosenbier ist unser Zepter, der Campingstuhl unser Thron. Von hier wird unsere Welt regiert.
Konzerte gehen zu Ende, alle kommen zu ihrem Zelt zurück. Ein Menschenstrom ergiesst sich über das Gelände, Gesichter neben Gesichtern, hunderte, tausende, eines so anders wie das nächste und doch so gleich. Ein Gefühl kommt auf, lässt sich nicht definieren, ein Gefühl der Masse, und doch der Kleinheit. Sind diese Menschen alle wie ich? Sind sie nicht alle namenlos, gesichtslos, nach zwei Schritten schon wieder vergessen? Alle sind sie gleich, völlig irrelevant für mich. Oder nicht? Ich bin ein Teil des Ganzen, und doch so ausserhalb von alledem hier. Winziger Bestandteil der Gemeinschaft, und doch so anders als alle anderen. Jedenfalls ich bin davon überzeugt. Liebe deinen Nächsten, antwortet Jesus auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot. Doch wie soll ich alle diese Menschen lieben? Ich kenne sie nicht, was soll ich mich also um all diese namenlosen Gesichter sorgen? Die Bewusstwerdung der eigenen Kleinheit unterstreicht genauso die Unbedeutendheit aller anderen Menschen.

Dinge aus dem anderen Leben, aus dem Alltag jenseits der Festivalgrenzen, drängen sich in mein Bewusstsein, werden wieder fortgedrängt. Sorgen, Dinge, die es zu erledigen gilt, Probleme, sie gehören hier nicht hin: Hier ist ausserhalb des Zyklus aus Arbeiten, Lernen, Freizeit, Schlafen. Als Zeit zählt hier die nächste Stunde, das nächste Bier, die nächste Zigarette, das nächste Lied. Und diese Zeit gehört uns allein.
D Wäut ghört üs, dir müesst gar nid meine.

Sebastian Schafer, studiert Theologie und Medien- und Kommunikationswissenschaft