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Freundschaft in der Krise
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Ich erlebe immer öfter, dass jemand ganz allein ist – nicht nur im Spital, auch im Leben. Etwa die Frau eines Patienten, der einen schweren Velounfall hatte. Am Vormittag hatte er sich verabschiedet, um eine Mountainbike-Tour zu machen. Am Nachmittag teilte die Polizei der Ehefrau mit, dass der Mann ins Spital gebracht worden sei. Als die Frau dort ankommt, ist ihr Mann schon seinen schweren Kopfverletzungen erlegen. Die Pflegenden rufen die Seelsorge, um die Frau zu unterstützen. Ich begleite sie bei der Polizeibefragung. Dann kommen Mitarbeitende des Instituts für Rechtsmedizin. Die Ehefrau muss den Verstorbenen identifizieren.
Sie ist verwirrt und überfordert. Sie kann noch gar nicht fassen, was gerade passiert. Nach mehreren Stunden ist sie müde und erschöpft. Sie möchte nach Hause. Als ich sie frage, wen sie jetzt anrufen könnte, wer kommen könnte, um sie zu begleiten, wer ihr helfen könnte, um die nächsten Stunden und Tage zu bewältigen, sagt sie: «Mein Mann und ich hatten immer aneinander genug.» Es gebe ein paar Berufskollegen, und die Nachbarin sei auch recht nett. Aber Freundinnen? Nein, das habe sie nicht. Mit den wenigen fernen Verwandten hätten sie schon Jahre keinen Kontakt mehr. Sonst kenne sie niemanden. Sie geht allein nach Hause. In der Hand einen blauen Plastiksack mit den Sachen ihres Mannes.
Ich denke: Wenn ein Paar ausschliesslich sich selbst hat, dann kommt doch ganz sicher irgendwann der Moment, an dem der eine krank wird oder stirbt, und die andere dann ganz auf sich gestellt ist. Damit muss man doch rechnen. Das kann man doch nicht einfach auf sich zukommen lassen.
Es gibt sicher Gründe, dass jemand keine Freund:innen hat. Ich will mir da kein Urteil anmassen. Ich bin lieber zurückhaltend mit Appellen und Vorschriften. Trotzdem habe ich den starken Impuls, Ihnen, liebe:r Leser:in, zuzurufen: Kümmern Sie sich um gute Freund:innen! Es müssen nicht viele sein. Aber Sie sollten zwei, drei Menschen kennen, von denen Sie wissen: Die kann ich immer anrufen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, wenn ich jemanden brauche zum Reden oder Weinen, zum Getröstetwerden oder Schweigen.
Wenn die Krise da ist, ist es schwierig, Freund:innen zu suchen. Es ist viel einfacher, dann auf das zurückzugreifen, was schon besteht – wie auf eine Ernte, die man vorher gesät und gepflegt hat.
Beim römischen Rhetoriker und Politiker Cicero lese ich: Die Freundschaft ist das Wichtigste. Sie ist sogar wichtiger als die Liebe. «Im Vergleich zur Freundschaft ist den Menschen ... wohl nichts Besseres von den unsterblichen Göttern geschenkt worden.»
Hubert Kössler, Seelsorger im Inselspital
Leseempfehlung: Cicero: Wahre Freunde. Reclam 2012
(das Büchlein kann man übrigens auch gut an Freund:innen verschenken, zum Beispiel beim nächsten Nachmittagskaffee oder Feierabendbier)