Wird vom St. Galler Gericht wegen Mord an ihrem Kind zum Tod verurteilt: Frieda Keller. Foto: Praesens- Film AG

«Friedas Fall»: Kein Mitgefühl für eine Kindsmörderin

Eine Mutter wird für den Mord an ihrem Sohn zum Tode verurteilt. Dass hinter der Verzweiflungstat mehr steckt, wird nicht berücksichtigt. Ein Schweizer Film ohne Pathos, der echte Gleichberechtigung fordert.


Sarah Stutte

Es ist ein schöner Frühlingstag im Mai des Jahres 1904 in St. Gallen. Ein kleiner Junge rennt mit seiner Mutter fröhlich über die sonnendurchtränkten Lichtungen in der Nähe des Hagenbuchwalds im Quartier St. Fiden. Wenig später ist das Kind tot. Begraben unter einem Baum und mit Erde und Blättern bedeckt. Spaziergänger finden die verweste Leiche des fünfjährigen Jungen erst einen Monat später. Er wird von zwei Ordensschwestern des Kinderheims «Tempelacker» anhand seiner Kleidung als Ernst Keller identifiziert.
 


Die Motive interessieren nicht

In dieser Einrichtung, die heute als Kindertagesstätte in St. Gallen noch immer existiert, verbrachte der kleine Ernst seine ersten fünf Lebensjahre. Seine Mutter, die 25-jährige Frieda ist eine geschickte Näherin und unverheiratet. Ihren Sohn hat sie aus der Not heraus in die Obhut der Heimleitung gegeben. Als die Polizei sie ausfindig macht, um sie über den Tod ihres Sohnes zu informieren, ist deren Reaktion anders als erwartet. Sie gesteht den überraschten Polizisten den Mord an Ernst und lässt sich widerstandslos festnehmen. Danach aber schweigt sie, über ihr Motiv, ihre Vergangenheit und ihr Trauma. Und niemand scheint an der Wahrheit wirklich interessiert. 

Die Tragödie hat sich tatsächlich so ereignet und St. Gallen jahrzehntelang bewegt. Sie tut es auch heute noch. Zum einen durch den 2015 erschienenen Roman «Die Verlorene» der Zürcher Autorin Michèle Minelli, der sich mit dem historischen Kriminalfall befasst. Und aktuell durch den gerade im Kino laufenden Spielfilm «Frieda's Fall» der deutschen Regisseurin Maria Brendle, für den Minelli auf Basis ihres Romans auch am Drehbuch mitschrieb. Dezidiert aus weiblicher Perspektive erzählt, zeigt die Aufbereitung des Stoffes, wie eine Frau in die Mühlen einer männlichen Justiz geriet, die ihr alle Schuld auflud. Der Stoff der Kindsmörderin ist einer, der die europäische Geschichte und Kultur immer wieder geprägt hat. 

Kindsmord aus innerer Not

Wer weder die historische Begebenheit, noch den Roman kennt, für den erweist sich der Film anfangs als Rätsel. Als Zuschauerin und Zuschauer kann man Frieda Keller – sehr gut gespielt von Newcomerin Julia Buchmann – nicht richtig einordnen. Sie wirkt ruhig, höflich und hilfsbereit. Sie ist  gut gekleidet und folgt der Etikette der damaligen Zeit. Das Grübeln beim Publikum darüber, ob so jemand wirklich das eigene Kind umgebracht haben soll, spielt bewusst mit den Schubladen, die nicht nur in früheren Zeiten in den bürgerlichen Köpfen vorherrschten. Eine Mutter ist liebend, eine Frau ergeben und eine Kindsmörderin skrupellos. 
 


Die Thematik hat gewisse Ähnlichkeiten mit der ebenfalls 2024 erschienenen österreichischen Produktion «Des Teufels Bad» von Veronika Franz und Severin Fiala. Der im 18. Jahrhundert spielende Film greift das damalige Phänomen des «mittelbaren Selbstmords» auf. Vor allem Frauen mit Suizidgedanken töteten vornehmlich Kinder, um dann zum Tode verurteilt zu werden. Während auf Selbstmord die ewige Verdammnis folgte, da die Todsünde nicht mehr gebeichtet werden kann, bot ein Kindsmord die Möglichkeit zur Absolution.

Gott vergibt, die Menschen nicht

Obwohl der Film um einiges düsterer ist als «Frieda's Fall», ist auch hier der zentrale Aspekt: Welche sozialgesellschaftlichen sowie religiös konnotierten Zwänge trieben Frauen in der Vergangenheit zum Äussersten? Und konnten sie innerhalb einer männerdominierten doppelbödigen Moral überhaupt Gerechtigkeit erfahren? Diese Fragen stellte sich schon Goethe, als er an seiner «Urfaust»-Version sass. Seine Figur Gretchen wurde wesentlich von der realen Geschichte der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt beeinflusst.

Sie tötete ihr neugeborenes Kind, wurde dafür zum Tode verurteilt und 1772 in Frankfurt am Main öffentlich hingerichtet. Ihr Fall weist erschreckende Parallelen zu demjenigen von Frieda Keller auf. Die Zwänge und Umstände, in denen junge Frauen damals standen und die sie dazu trieben, ihre eigenen Kinder zu töten, waren bei den Prozessen nicht von Interesse. Goethe zeigte in seiner Gretchen-Darstellung eine junge Frau, die verführt und ins Unglück gestürzt wird. Hier ist sie keine teuflische Gestalt, die einfach tötet, sondern keinen anderen Ausweg sieht. Aus diesem Grund lässt er im letzten Kapital Gott auch ihre Seele retten. Goethe ist gnädiger als die Gesellschaft um ihn. Sterben muss Grete trotzdem. 

Schuld, Schmerz, Glaube und die Hoffnung auf Vergebung sind auch in «Frieda's Fall» Themen. In einer der besten Szenen des Films schreit die Protagonistin in einer Kirche das an ihr begangene Unrecht laut heraus.
 


Gesellschaftliches Versagen

Der Film, der im Stiftsbezirk St. Gallen gedreht wurde, fächert erst nach und nach die Hintergründe auf, die zu Frieda Kellers verzweifeltem Entschluss führten. In dessen Zentrum steht eine Mehrfachvergewaltigung durch ihren ehemaligen Arbeitgeber. Zu diesem Zeitpunkt ist Frieda, die an ihrer Tat fast zerbricht, bereits vom Gericht wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Die Gerichtsverhandlung, die zu diesem Urteil führte, wird auf der Leinwand als Farce dargestellt. Staatsanwalt und Verteidiger sind mehr damit beschäftigt, sich persönlich zu beleidigen, als faktenbasiert zu argumentieren. 

Vor dem Scheitern der Justiz versagte schon die St. Galler Vormundschaftsbehörde, die zu wenig Rücksicht auf die persönliche Situation von Frieda Keller genommen hatte. Doch statt sich mit der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen, wird das Bild einer verrückten Täterin kreiert, die den Kindsmord in den Genen hat. Sie ist nicht das Opfer eines Vergewaltigers, der nie zur Rechenschaft gezogen wird. So stellte beispielsweise die katholische Zeitung «Die Ostschweiz» Frieda Keller damals als kaltblütige Mörderin mit unmoralischem Lebenswandel dar.
 


Die christlich-humanitäre Haltung und der Widerstand gegen ein Urteil, das keine mildernden Umstände berücksichtigte, kam vor allem von schweizerischen Frauenorganisationen. Diese schlossen sich empört zusammen und harrten tagelang vor dem Gerichtsgebäude aus. Frieda Kellers Prozess wird deshalb auch als Weichenstellung für die Frauenbewegung in der Schweiz gesehen. Für sie selbst zeigen die Proteste jedoch wenig Wirkung. Um ihr Leben zu retten, muss die Verurteilte per Begnadigungsgesuch die Männer des Grossen Rats darum bitten. Eine weitere Erniedrigung. 

Am 28. November 1904 wird ihrem Gesuch stattgegeben und ihre Strafe in eine lebenslange Einzelhaft umgewandelt. 1919 wird sie aus der Haft entlassen und stirbt 1942, depressiv und physisch angeschlagen, in der Irrenanstalt Münsterlingen im Thurgau. 

 

«Frieda's Fall» läuft momentan in den Schweizer Kinos. Er ist dreimal nominiert für den Schweizer Filmpreis, der am 21. März in Genf verliehen wird. 
«Des Teufels Bad» erscheint am 27. März auf DVD und blu-ray.