
Fünfzig Jahre Befreiungstheologie – eine Bestandesaufnahme
Buchtipp aus der ökumenischen Buchhandlung voirol
Für Sie gelesen – von Gallus Weidele
Vor mehr als 50 Jahren ist in Lateinamerika eine neue Art, Theologie zu betreiben, entstanden. Bekannt unter dem Stichwort «Befreiungstheologie» hat sie die biblischen Texte als Sammlung kollektiver Geschichten von Unterdrückung und Befreiung gelesen, im Licht des Glaubens die soziopolitische Wirklichkeit interpretiert und zum gesellschaftlichen Handeln motiviert.
Die vorliegende Publikation nennt zunächst die Beweggründe ihrer Entstehung (u. a. Armut, Ungleichheit, Unrecht), ihre Geschichte, ihre Arbeitsweise und ihre Methode. Danach werden die wichtigsten Phasen und Personen der klassischen Befreiungstheologie dargelegt. Im Verlauf der Jahre hat sich diese sowohl geografisch als auch thematisch ausgeweitet. So werden auch die weiteren Ausdifferenzierungen auf- gezeigt und beschrieben: Ungleichbehandlung der Geschlechter (Gender- Perspektive), Problematik der indigenen Völker, Auswirkungen der ökologischen Krise, Religionspluralismus und interreligiöser Dialog, Kolonialismus und Neokolonialismus. Ein weiteres Kapitel gibt einen Überblick über asiatische, afrikanische und andere Ansätze aus dem Globalen Süden, um schliesslich einen Blick auf Initiativen im deutschsprachigen Raum zu werfen.
Der Autor zieht folgendes Fazit: «Inzwischen bin ich überzeugt, dass die Befreiungstheologie weder tot noch totgesagt, sondern lebendig und bunt, vielfältig und herausfordernd, vor allem aber nötiger denn je ist. Ob sie als solche auch benannt wird, ist nicht wichtig. Entscheidend ist die befreien- de Botschaft: eine andere Welt ist möglich!»
Der Autor ist als Theologe und Philosoph ein fundierter Kenner der Befreiungstheologie. Er lebte und arbeitete zwischen 1990 und 2012 im Andenraum von Peru und Bolivien, unterbrochen von seiner Tätigkeit als Leiter des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio (D-Aachen).
Das Buch ist auch für Nichtfachleute verständlich geschrieben. Es bietet einerseits einen hervorragenden Überblick über die Entwicklung der letzten fünfzig Jahre in Lateinamerika und anderseits über die Ansätze aus anderen Gegenden des Südens. Der Autor kann viele Querverbindungen ziehen und Namen mit Werken und geografischem Kontext verbinden, was sehr erhellend ist. Hilfreich ist das mehr als zwanzig Seiten umfassende Literaturverzeichnis. Bei deutschsprachigen Publikationen werden meist auch die fremdsprachigen Originalausgaben angegeben. Das Buch ist insofern sehr wertvoll, als auf dem Markt kaum noch befreiungstheologische Publikationen erhältlich sind.
Josef Estermann: Herrschaft und Befreiung. Fünfzig Jahre Befreiungstheologie – eine Bestandesaufnahme.
Edition Exodus 2025, 191 S., Fr. 22.–.