Mehr als eine Frisur. Dreadlocks werden als Teil des kulturellen Erbes von People of Color verstanden. Foto: iStock/mheim3011

«Furcht»bare Locken

28.07.2022

Ein weisser Mensch sollte keine Dreadlocks tragen.

Ein weisser Mensch sollte keine Dreadlocks tragen. Ein Debattenbeitrag von Andreas Krummenacher

In Bern wurde der Auftritt der Band «Lauwarm» in der Brasserie Lorraine unlängst abgebrochen. Zuschauer:innen beschwerten sich beim Veranstalter, weil sie sich wegen der Kleidung und den Frisuren einzelner Bandmitglieder «unwohl» fühlten. Es geht dabei um Dreadlocks und afrikanische Kleidung aus Gambia und dem Senegal.

Die Zuschauer:innen waren der Meinung, das sei «kulturelle Aneignung». Das schreiben die Verantwortlichen der Brasserie auf ihrer Facebook-Seite. Sie schreiben auch: «Wir möchten uns bei allen Menschen entschuldigen, bei denen das Konzert schlechte Gefühle ausgelöst hat.»

Die fünfköpfige Mundart-Band Lauwarm hat Reggae, Indi-World und Pop in ihrem Programm. Zur Kontroverse äussern sie sich nur spärlich. In den Social Media rufen sie unter einem bestimmten Hashtag zu einer respektvollen Diskussion zum Thema auf, man werde aber am Musikstil und beim individuellen Erscheinungsbild der Bandmitglieder nichts ändern.

Fast ausnahmslos werden die Verantwortlichen der Brasserie Lorraine für diesen Entscheid kritisiert. Ich finde den Konzertabbruch richtig. Es geht meiner Meinung nach in erster Linie um die kulturell-historische Bedeutung der Haare schwarzer Menschen und um die Aneignung beispielsweise bestimmter Stoffe und Muster zu kommerziellen Zwecken. Die Musik, im speziellen Fall der Reggae, spielt nur am Rand eine Rolle.

Gegen weisse Unterdrückung

Dreadlocks sind nicht nur eine Frisur. Diese langen, teilweise verfilzten Haarsträhnen tauchen bei den Azteken auf, sie finden sich heute im Sufismus und bei Geistlichen im Hinduismus. Es war der Reggae-Musiker Bob Marley, der die Dreadlocks berühmt gemacht hat. Hintergrund bildet dabei die Rastafari-Bewegung. Diese kulturell-religiöse Bewegung aus dem Jamaika der 1930er Jahre hat christlich-spirituelle und subkulturelle Bezüge.

Die Rastafaris erfanden ihre Dreadlocks nicht selbst. Genau genommen wurde verfilztes afrikanisches Haar durch Bilder von äthiopischen Soldaten, die Mitte der 1930er Jahre gegen die italienische Invasion kämpften, in die Karibik transportiert. Diese Kämpfer schworen – nach dem Beispiel von Samson in der Bibel –, dass sie ihre Haare nicht mehr schneiden würden, bis ein schwarzer König die schwarze Bevölkerung befreien würde.

Viel wichtiger aber ist und war die politische Bedeutung. Dreadlocks sind ein Symbol gegen die Unterdrückung schwarzer Menschen. «Dread» bedeutet «Furcht». Die Locken waren eine bewusste Abgrenzung gegen das weisse, makellose Schönheitsideal. Dieses Bewusstein wurde vor allem in den USA von schwarzen Freiheitskämpfer:innen oder von Befreiungsorganisationen gepflegt, das schreibt die Südafrikanische Geschichtsprofessorin Hlonipha Mokoena. Sie erwähnt etwa das «Black Conscoiusness Movement» oder die «Black Panthers».

Das Haar schwarzer Menschen

Schwarze Menschen, People of Color, werden seit der Zeit des Kolonialismus stets und ständig auf ihre Hautfarbe und auf ihre Haare reduziert. Noch heute ist das schwarze Haar ein politisches Thema in den USA. Insbesondere das Haar schwarzer Frauen. Pflegeprodukte für ihre Haare gab es oft nur in Drogerien und da waren sie unter Verschluss, man musste speziell danach fragen. Es gibt dazu eine wunderbare Szene im Dokumentarfilm «Good Hair», produziert vom amerikanischen Komiker Chris Rock. An einer Stelle heisst es: «Wenn das Haar einer schwarzen Frau geglättet und gezähmt ist («relaxed»), dann sind auch die weissen Menschen entspannt.»

Das Haar schwarzer Frauen wurde bei Weissen oft zwiespältig beurteilt. Entweder löste es Faszination aus oder dann Abscheu. Entweder war es wild und frei und unerreichbar oder es wurde als verfilzt und schmutzig tituliert.

Die britische Kulturwissenschaftlerin Elizabeth Johnson schreibt, dass in Sklavengesellschaften weisse Frauen ihren versklavten weiblichen Dienerinnen oft die Haare abhackten, weil dies angeblich «weisse Männer verwirrte» oder gar erregte. Noch im 18. Jahrhundert gab es in us-amerikanischen Teilstaaten Gesetze, wonach schwarze und multiethnische Frauen ihr Haar stets bedecken mussten.

Gleichzeitig kamen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Bilder aus den britischen Kolonien Afrikas nach Europa, die Menschen mit für europäische Verhältnisse «wilden Afros» zeigten. Es waren oft Bilder von Unabhängigkeitskämpfer:innen aus dem Sudan. Diese Bilder, so die Historikerin Hlonipha Mokoena, würden das Bild von schwarzem Haar bis heute prägen. Man habe diese Haare als schmutzig und ungezähmt betrachtet.

Alles ausser der Bürde

Weisse Personen, die heute Dreadlocks tragen, fühlen sich möglicherweise hip, anders und unkonventionell. Sie kennen aber keine Unterdrückung, keine Ausgrenzung, keine Diskriminierung. Sie schmücken sich mit dem Nimbus schwarzer Kultur, die im konkreten Fall von deren Leid und Kolonialismus erzählt. Oder die Dreadlocks werden gedankenlos getragen, ohne geschichtliches Bewusstsein.

«Everything but the burden», alles ausser der Bürde – unter diesem Titel veröffentlichte der Kulturtheoretiker Greg Tate 2003 ein Buch über die Situation kultureller Aneignung in den USA. Musik, Mode, Sprache – Weisse bedienen sich an der afroamerikanischen Kultur, die Hintergründe würden dabei nicht interessieren.

Ein bestimmter Tanz aber war vielleicht explizit gegen die Sklaverei gerichtet; eine Jazz-Melodie wurde etwa am Abend auf den Baumwollfeldern im Süden gespielt und das nach 16 Stunden Arbeit von versklavten Personen; ein Muster hat möglicherweise eine religiöse Bedeutung und zollt den Ahnen Indigener Respekt; ein Symbol ist eng verknüpft mit Leid und Hunger und Tod – das alles kommt bei den Menschen, die sich heute diese Kultur aneignen, nicht vor. Die Kultur wird angeeignet, ohne das Leid und die Unterdrückung erfahren zu haben.

Das ist die Bürde: jahrhundertelang verweigerte Bürgerrechte, Rassismus, Armut, Ausbeutung, Vertreibung, Massenmord. Die Lösung wäre darum kulturelle Anerkennung. Dabei geht es um Austausch, um Respekt und Verständnis. Wir müssen uns den Kulturen der Welt vorsichtig neu annähern und lernen. 

 

Bücher zum Thema:
Elizabeth Johnson, Resistance and Empowerment in Black Women's Hair Styling, Verlag Routledge 2013.
Greg Tate, Everything But The Burden. What White People Are Taking from Black Culture, Broadway Books 2003.