Aufarbeitung und Andenken: Annina Furrers Film «Dem Himmel zu nah».
Gegen das Vergessen
Ein Dokumentarfilm zum Thema Suizid
Als Annina Furrer 20 Jahre alt war, nahm sich ihre Schwester Bethli das Leben. Knapp 20 Jahre später beging auch ihr Bruder Marius Suizid. Für ihren Dokumentarfilm «Dem Himmel zu nah» machte sich die Berner Regisseurin auf Spurensuche und arbeitete diese Schicksalsschläge während fünf Jahren auf.
Interview: Anouk Hiedl
«pfarrblatt»: Der Suizid ihrer Geschwister hat Ihre Familie erschüttert und viele Fragen aufgeworfen. Wie gehen Sie heute damit um?
Annina Furrer: Die Arbeit am Film war eine jahrelange, intensive Auseinandersetzung mit Fragen und Emotionen, also eine gewisse Aufarbeitung. Heute treibt mich der Verlust der beiden weniger um, er begleitet mich aber nach wie vor. Dank dem Film konnte ich mit meiner Familie und mit Schicksalsgenoss*innen so über die Vergangenheit reden, wie es sonst nicht möglich gewesen wäre. Er hat zu einer neuen Nähe geführt. Aber es gab auch Diskussionen und Konflikte. Mein Vater zum Beispiel wollte nicht vor der Kamera sprechen. Es ist ein grosser Unterschied, ob man sich privat oder öffentlich zu diesem Thema äussert. Auch die Feedbacks, die ich aus dem Publikum erhalte, zeigen, wie unterschiedlich wir mit Suizid umgehen. Manche können und wollen nicht darüber sprechen, andere kommen mit ihrer Geschichte auf mich zu.
Sie und Ihre Geschwister hatten fürsorgliche Eltern und waren von Verständnis und Liebe umgeben. In Ihrem Film gehen Sie dem nach, was schieflief.
Als die Berner Privatschule, an die wir alle drei gingen, geschlossen wurde, bekam unsere bislang heile Welt Risse. Bei Bethli und Marius löste der spätere Drogenkonsum Dinge aus, die wir so nicht ahnen konnten. Wenn ich erzähle, dass sich mein adoptierter Bruder umgebracht hat, wird er von vielen schubladisiert: «Marius hatte keine Wurzeln. Er war traumatisiert.» So einfach ist es aber nicht. Wir wuchsen alle gleich auf. Mit meiner leiblichen jüngeren Schwester Bethli verlor Marius schliesslich seine nächste Seelenverwandte durch Suizid.
Sie machen Persönliches aus Ihrer Familie öffentlich – Gedanken, Briefe, Malereien und Tonbandaufnahmen. Wieviel ist genug bzw. zu viel?
Diese Frage kam schon beim Schreiben auf und auch, wann Suizid ein privates und wann ein gesellschaftliches Thema ist. Wir haben alle eine andere Geschichte unserer Vergangenheit im Kopf. Der Film zeigt vor allem meine Sicht und Erinnerung. Ich bin als Protagonistin im Film und war zugleich Regisseurin. Da war auch die Aussensicht Dritter sehr wichtig. Damit sich das Publikum einklinken kann und um nicht zu stark ins Private zu kippen, wurde schliesslich viel im Schnitt entschieden.
Im Film sprechen Sie Suizid, Depression, Psychose und Schuld an, alles Tabuthemen.
Ja, alles hängt stark zusammen. Der Tod ist kein Tabu mehr, hat aber sehr wenig Platz in unserer Gesellschaft. Je nach Kultur und Epoche ist das unterschiedlich. Wer sich mit dem Tod befasst, lebt anders. Suizid ist nicht ein Entscheid gegen das Leben, sondern gegen das Leiden.
Würden Sie in Ihrem Film heute etwas anders machen?
Nein. Ich habe gemacht, was damals stimmte, und gegeben, was ich konnte. Der Film ist auch eine Liebeserklärung und ein Andenken an meine Geschwister – auch für meine eigenen Kinder.
Was würden Sie Marius und Bethli heute sagen?
Dass ich oft an sie denke und sie vermisse. Und dass ich hoffe, dass sie Ruhe und Frieden gefunden haben.
Suizid – und dann?
Die Wanderausstellung «Suizid – und dann?» beschäftigt sich mit dem Thema Suizid und den Hinterbliebenen. Im Rahmen der Ausstellung finden verschiedene Veranstaltungen in den Pfarreien statt.
Programm Pfarrei St. Franziskus, Stämpflistrasse 30, 3052 Zollikofen
• Wanderausstellung «Suizid – und dann?»: 1. bis 8. November
• Thematischer Gottesdienst: So, 3. November, 09.30
• Alter und Sterben – Würde und Selbstbestimmung, Diskussionsrunde mit Dr. Heinz Rüegger, Dr. Daniela Trapp und dem kath. Theologen Patrick Schafer: Mi, 6. November, 15.00
Programm Pfarrei Heiligkreuz, Johanniterstrasse 30, 3047 Bremgarten
• Wanderausstellung «Suizid – und dann?»: 9. bis 16. November
• Thematischer Gottesdienst: So, 10. November, 11.00
• Filmabend «Dem Himmel zu nah» und Austausch mit der Regisseurin Annina Furrer: Di, 12. November, 18.30