Bei sommerfrischer Aussicht auf den See im Berner Oberland in Erinnerungen schwelgen. Foto: Pia Neuenschwander
«Geh aus, mein Herz, und suche Freud’…»
Sommerliche Momentaufnahmen aus der Literatur
Literarische Momentaufnahmen zum Sommerbeginn.
Beatrice Eichmann-Leutenegger
Ein klirrend kalter Januartag, 1997: In der Kirche von Niederbipp versammelt sich die Trauergemeinde für die Abschiedsfeier von Dora, der Gattin des Schriftstellers Gerhard Meier. Man singt das Lied «Geh aus, mein Herz, und suche Freud’ in dieser lieben Sommerszeit …». Zögerlich fällt der Gesang ein, und man fragt sich: Warum gerade dieses Lied mitten im Winter? Es sei Dorlys Lieblingslied gewesen, wird erklärt, man habe es immer wieder in ihrem pietistischen Elternhaus gesungen – das Sommerlied von Paul Gerhardt aus dem Jahr 1653.
Nach Dorlys Tod werde er nicht mehr schreiben, sagte Gerhard Meier (1917–2008). Doch 2005 überraschte der Berner Autor mit einem zauberhaften Gedenkbuch für seine Gefährtin während sechzig Jahren. Den Titel «Ob die Granatbäume blühen» hatte er dem Hohelied entnommen, und dessen elegischer Ton drang auch in seinen Text ein. Er birgt Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, auch Visionen und Mutmassungen.
Wo mag die Verstorbene nun weilen? Wenn Gerhard Meier nun mit dem Raddampfer «Lötschberg» nach Brienz fährt, schaut er zum Hotel Giessbach hinauf, wo sie zusammen einige Male die Sommertage verbracht haben, und «in Brienz, auf der Strandpromenade, kommst du manchmal auf mich zu, mehr schwebend als gehend und strahlend vor Glück».
Es ist diese Helligkeit, diese Heiterkeit, die wir mit keiner anderen Jahreszeit so sehr verbinden wie mit dem Sommer. Begeistert begrüssen die Bewohner Nordeuropas die langen Tage, an denen die Dunkelheit nur wenige Stunden anhält. Das Herz füllt sich mit Freude und wappnet sich für die Wiederkehr der düsteren Nächte.
Die lichten Tage von Travemünde sollen auch Tony Buddenbrook im Sommer 1845 wieder auf die Beine helfen. Sie, die Tochter eines Lübecker Konsuls und Handelsherrn, kann sich nicht entschliessen, den von den Eltern vorgeschlagenen Mann zu heiraten: den salbungsvollen Hamburger Kaufmann Bendix Grünlich. Kein Lachen mehr, kein Appetit, nur ab und zu ein herzzerbrechendes Seufzen. Nun aber beginnen für Tony die Sommerwochen an der Ostsee. «Sie blühte auf, nichts lastete mehr auf ihr; in ihre Worte und Bewegungen kehrten Keckheit und Sorglosigkeit zurück», schreibt Thomas Mann. Und Tony stellt fest: «Es ist merkwürdig, dass man sich an der See nicht langweilen kann (…), ohne etwas zu tun, ohne auch nur einem Gedanken nachzuhängen …»
Das ist das Wunder des Sommers mit seiner Wärme, die lockt und lockert. Auch in Christa Wolfs Buch «Sommerstück», erschienen im März 1989, entzückt das sommerliche Mecklenburg jene Gäste, die aus der Stadt gekommen sind, mit seinen Düften und Lüften. Wahrscheinlich ist die Handlung im Jahrhundertsommer 1976 anzusiedeln, der mit seiner langen Schönwetterphase dem Freundeskreis endlos erscheint.
Zwar merkt die Autorin an, alle Figuren dieser Erzählung seien erfunden. Doch man vermutet hinter der einen und anderen Person DDR-Schriftstellerinnen wie Sarah Kirsch, die ein Jahr später in den Westen übersiedelt, oder Maxie Wander, die 1977 stirbt. Der Text ist in seinen frühen Fassungen 1982/83 niedergeschrieben und 1987 für den Druck überarbeitet worden. Wenig geschieht an Handlung, aber dafür schleichen sich Momente ein, in denen sich Veränderungen und Abschiede ankündigen.
Auf dünnem Boden ruht die Idylle der Menschen, die sich für einen Sommer aufs Land zurückgezogen haben, fragil sind die Freundschaften, die entstehen, und es irrlichtert in einem Staat, der ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des Buches im Frühjahr 1989 wie ein Kartenhaus zusammenfällt. Kein anderer Buchanfang hat mir den Sommer, dessen Schönheit und Unbeschwertheit jäh ins Gegenteil umschlagen kann, so sehr vor Augen geführt wie jener des «Ostpreussischen Tagebuchs»: Noch einmal, ehe die Kriegswalze darüber hinging, entfaltete sich meine ostpreussische Heimat in ihrer ganzen rätselvollen Pracht. Wer die letzten Monate mit offenen Sinnen erlebte, dem schien es, als sei noch nie vorher das Licht so stark, der Himmel so hoch, die Ferne so mächtig gewesen. Und all das Ungreifbare, das aus der Landschaft heraus die Seele zum Schwingen bringt, nahm in einer Weise Gestalt an, wie es nur in der Abschiedsstunde Ereignis zu werden vermag …»
Es sind die dokumentarischen Aufzeichnungen des Arztes Hans Graf von Lehndorff (1910–1987) aus den Jahren 1945 bis 1947, und sie erzählen von Untergang und Vertreibung. Der Autor schrieb seine Diarien 1947, veröffentlichte sie aber erst 1961, weil er Distanz gewinnen wollte. Sein Tagebuch setzt mit dem Sommer 1944 ein, als die Flüchtlinge aus Litauen hereinströmen, weil die russische Front näher rückt. Ab Anfang 1945 tritt auch Ostpreussens Bevölkerung den Leidensweg nach Westen an – nichts ist mehr wie einst.