Interreligiöser Dialog in Thun. Foto: ahkka, photocase.de
Geh hin und schau! (1)
Eine apostolische Ermunterung zum 800-jährigen Bestehen des interreligiösen Dialogs
Wo chiemte mer hi wenn alli seite wo chiemte mer hi ...
Nach einem öffentlichen Vortrag über den Islam in unserer Pfarrei und der darauffolgenden Fragestunde habe ich mir geschworen: «Geh hin und schau selbst»! Das Gespräch kreiste nämlich um all die bekannten negativen Impulse von Christen gegenüber «dem Islam»: «Die Tyrannei des Kopftuches gegenüber muslimischen Frauen, das Verweigern des Handschlags muslimischer Männer gegenüber Frauen, die Verweigerung eines Dialogs zwischen Moslem und Christen.»
Solche endlosen Diskussionen, ohne anwesende Musliminnen und Muslime, machten mich nachdenklich. Wem nützen solche Anlässe im eigenen geschützten Umfeld von mit Vorurteilen geprägten Mitmenschen? Bin ich schon mit einem Moslem in Kontakt gekommen? Warum nicht? Was läuft hier schief?
Mein erster Versuch mit einem islamischen Kulturverein ins Gespräch zu kommen, misslang. Die Ansprechperson verweigerte einen Kontakt aufgrund schlechter Erfahrungen mit Christen. Vorfälle wurden dokumentiert, etwa die Beschädigung des Autos eines Mitgliedes auf einem öffentlichen Parkplatz, weil eine islamische Vignette sichtbar war. Solche Vorkommnisse prägten das Leben von Moslems und Christen im Raume Thun. «Geh hin und schau»! Also besuchte ich anfangs 2018 unangemeldet die IKRE-Moschee in Thun. Der Islamische Kulturverein IKRE hatte eben Imam Azir Aziri fest angestellt. Dieser begrüsste mich als Gast beim Mittagsgebet. Nach dem Gebet hatten wir unser erstes Gespräch. Ich sagte dem Imam, dass ich gerne mit den muslimischen Mitmenschen ins Gespräch kommen würde. Ein bis dato erfolgloses Unternehmen. Ich sagte zum Imam: «Wenn Gott will, dass wir Freunde werden, wird dies geschehen, wenn nicht…….»! Der Imam kam mir entgegen, umarmte mich und sagte: «Das wollen wir zusammen versuchen»!
Inzwischen sind zwei Jahre vergangen. Aus der Freundschaft mit dem Imam wurde ein tiefes vertrauensvolles Zusammengehen. Trotz aller vormals religiösen Bedenken nennen wir uns heute gegenseitig Bruder. Aber nicht nur das. Auch alle Moslems, die ich kennen gelernt habe, nennen mich «Bruder Hans». Wie ist das möglich? Nur durch ein gemeinsames Vertrauen an der Basis menschlicher Begegnungen. Der Fokus liegt auf dem Dialog auf gleicher Augenhöhe. Ich gehe seit zwei Jahren einmal wöchentlich in die Moschee zum Gebet. «Wir beten nicht miteinander, sondern füreinander». Ich als Christ, habe meinen Platz auf der Besucherbank, wo ich während des Gebets im gleichen Raum bin wie meine muslimischen Brüder. Jedes Mal begegnen wir uns nach dem Gebet mit dem Wort: «Allah Kabul» (2)! Unvergesslich auch der Moment, als einer meiner muslimischen Freunde nach Gebetsende auf mich zutrat und sagte: «Du bist mein Bruder»! Es gibt für einen Menschen, der sich christlich nennt, keinen Grund, einen anderen Mitmenschen zu verachten. Getreu dem Vorschlag von Kurt Marti: «Für einisch z’luege wohi dass mer chiem we mer gieng.» (3)
Den Einwand, dass Christen aufgrund des Kennenlernens anderer Religionen, der Kirche fernbleiben, ist unbestätigt. Das mag möglicherweise dort greifen, wo keine direkte Verbindung zur anderen Religion besteht. Durch das gemeinsame Zusammengehen für Frieden und Integration, fühle ich mich noch mehr meinem katholischen Glauben zugeordnet. Mein Bruder Azir seinerseits zum Islam. Durch unsere theologischen Gespräche fanden wir gemeinsam neue Quellen in der Bibel und dem Koran. Wir haben festgestellt, wie wir viele Gemeinsamkeiten haben, die ihren Ursprung im christliche und im muslimische Glauben haben.
Die Höhen und Tiefen des ersten interreligiösen Dialogs von der Basis her
Das im letzten Jahr erstmals durchgeführte Friedensgebet in Thun hinterliess hauptsächlich in der muslimischen Gemeinde Spuren. Wir beteten nicht zusammen, sondern getrennt füreinander. Dazu gab es einige Echos von Imamen auch ausserhalb der Schweiz. «Ihr habt eine neue Philosophie gegründet, nun können wir ebenfalls diesem Beispiel folgen. Das Geheimnis ist füreinander und nicht miteinander zu beten!» So wird der gegenseitige Respekt gewahrt. Ich zitiere einen Ausschnitt aus der Sure 60 im Koran: «Alläh verbietet euch nicht gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Häusern vertrieben haben, gütig zu sein!»(4)
Nach dem Friedensgebet sprach mich ein muslimischer Freund an und sagte: «Ich bin nun seit zweiunddreissig Jahren in der Schweiz, aber das erste Mal mit gläubigen Christen zusammen an einem gemeinsamen Ort des Gebetes»! Wir Christen waren damals zahlenmässig untervertreten. Der grosse Aufmarsch der muslimischen Thuner Bevölkerung gab ein eindeutiges Zeichen: «Wir wollen Frieden und Integration»! Die grosse Neuheit innerhalb der verschiedenen interreligiösen Dialoge ist, dass wir an der Basis mit unseren Gläubigen wirken. Nicht als Gefangene einer verordneten Doktrin innerhalb eines Elfenbeinturmes. Nicht als wissenschaftliche Experten, sondern wir sehen uns in der Pflicht unseres gemeinsamen Gottes.
Natürlich pflegen Azir und ich einen tiefen theologischen Dialog, der jedoch kaum in die Praxis mit unseren Gläubigen dringt. Azir und ich hatten dieses Jahr einen Termin an der Universität Fribourg beim Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG). Da ich an diesem Tag ebenfalls wie gewohnt meine Vorlesung an der theologischen Fakultät besuchte, fragte ich Frau Prof. Barbara Hallensleben, ob der Imam ebenfalls mitkommen dürfe. Der Imam wurde in die Vorlesung einbezogen, es resultierte eine wertvolle und bereichernde Begegnung zwischen unseren beiden religiösen Welten. Vermutlich war es auch das erste Mal, dass ein Imam an einer theologischen Vorlesung zusammen mit den Student*innen teilgenommen hat.
Mitte Jahr 2019 folgte ein Interview mit dem «Thuner Tagblatt». Der Imam und ich wurden zu einem Gespräch eingeladen. Dieses Interview wurde unter dem Titel «Wir leben als Menschen zusammen da spielt die Religion keine Rolle» veröffentlicht. Die Reaktionen aus der Öffentlichkeit waren durchaus positiv. Der Imam wurde in der Öffentlichkeit erkannt. Ich habe einige islamophobe E-Mails erhalten, die jedoch keinerlei Wirkung erzeugten. Die Zusammenarbeit verbleibt jedoch nicht nur im religiösen Bereich. Die IKRE-Moschee und der Imam konnten sich bei den Asylbehörden einbringen. Die Sozialbehörden der Stadt Thun besuchten die Moschee und wir erreichten eine erfolgreiche, vertrauensvolle Zusammenarbeit. Die Asylbehörden ebenfalls. Im Spital Thun brachte sich der Imam als Seelsorger ein. Es folgten Gespräche mit dem Chef der Armeeseelsorge, um den Imam auf dem Waffenplatz bekannt zu machen und bei Bedarf ebenfalls als Seelsorger einzubeziehen.
Natürlich mussten wir auch schwierige Fälle bearbeitet. Ich kann glücklicherweise auf meinen Sohn zurückgreifen, der Jurist ist. Es sind in diesem Umfeld Ereignisse passiert, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Probleme im Umfeld des Radikalismus beider Seiten sind überschaubar und konnten bis dato, zusammen mit den Polizeibehörden, eliminiert werden.
Besonders hervorheben möchten wir die gegenseitigen Besuche. Die Moschee ist ein frei zugängliches Gotteshaus. Wir durften verschieden Gruppen interessierter Personen zum Moscheebesuch einladen. Das Resultat war jeweils durchwegs positiv. Wenn wir Menschen untereinander uns mehr Wissen über das Fremde aneignen wollen, dann nur durch den gegenseitigen Dialog auf gleicher Augenhöhe. Die jeweils sehr gut verständliche Präsentation und der Einführungsvortrag des Imams und des Vorstandes der IKRE-Moschee fördern die gegenseitige Akzeptanz und Toleranz. Es ist eine fruchtbare Wissensvermittlung. Wir hatten auch Religionsschüler*innen beider Landeskirchen als Gast in der Moschee. Mir bleiben das Interesse, die Fragen und die Offenheit der Besucher im Gedächtnis haften. Der Imam und ich sind der Überzeugung, dass nur durch die Zusammenarbeit an der Basis der Gläubigen, die gegenseitigen Vorurteile abgebaut werden können. Inzwischen sprechen wir vom «Thuner-Modell». Die Auswirkungen der Zusammenarbeit auf dem religiösem wie politischen Parkett hat auch das Interesse an unserem «Thuner-Modell» an den islamischen Universitäten in Medina und weiteren islamischen Gebieten Osteuropas erreicht. Wir konnten eine recht gute Vernetzung innerhalb der islamischen Kultur aufbauen.
Warum WIR?
Seit Mitte Jahr 2019 hat sich der Islamische Kulturverein Thun (IKRE) entschlossen, unseren interreligiösen Dialog nicht in einer separaten Gruppe oder in einem speziellen Verein auszulagern, sondern innerhalb der Moschee als ein Forum für die Förderung des christlich-muslimischen Dialogs zu positionieren. Ich wurde als Vertreter der IKRE-Moschee für das Christentum aufgenommen. Damit sind wir als Moschee auch interreligiös neutral geworden.
Imam Azir Aziri leitet die muslimische Seite und ich die Christliche. Vermutlich ist das ebenfalls ein Novum, dass ein christlicher Vertreter im Namen einer Moschee auftreten kann. Es ist das Verdienst unserer gegenseitig achtungsvollen Zusammenarbeit. Besonders unterstreichen möchte ich das grosse Vertrauen auf Gegenseitigkeit. Der Imam und ich sind nach einer zweijährigen Praxis zur Überzeugung gelangt, dass durch Information, Vertrauen und gegenseitiger Achtung dem unseligen Terror und Fundamentalismus der Boden entzogen wird. Der Imam und ich arbeiten immer enger mit Imamen aus der Schweiz zusammen. Wir sind absolute Gegner jeglicher Form von Fundamentalismus und jeglicher religiöser Gewalt gegen Andersgläubige. Wir werden noch mehr gegen den Rassismus, dem religiösem Fanatismus und der Unterdrückung um des Glaubens Willen entgegentreten. Wir planen eine freie Begegnungsstätte zwischen Menschen, die an Integration und Glaubensfreiheit interessiert sind, aufzubauen. Ebenso werden wir wieder ein Friedensgebet organisieren, die Zusammenarbeit mit Behörden und Asylzentren ausbauen, den gegenseitigen Informationsaustausch wollen wir weiter fördern, die gegenseitigen Moschee- und Kirchenbesuche noch weiter ausbauen. Ein Informationszentrum für Fragen über die islamische Kultur und Religion wollen wir realisieren. Alles sehr praxisbezogen, im Sinne der nachfolgend erwähnten «Al-Hikmah-Philosophie».
Al-Hikmah und Hawariyin(5)
«(268) Er gibt die Weisheit, wem Er will, und wem da die Weisheit gegeben wurde, dem wurde hohes Gut gegeben; doch niemand bedenkt dies ausser den Einsichtigen. (269) Und was ihr an Spende gebt oder als Gelübde versprecht, sieht, Alläh weiss es, und die Ungerechten finden keinen Helfer.» (6)
Es reicht nicht aus, wenn der Überbringer des Wort Gottes sich das theologische Wissen einverleibt hat, er muss es auch anwenden können. Mein Bruder, Imam Azir, erklärt dies an einem einfachen Beispiel. Vor uns liegt ein Teller, daneben steht eine Tasse. Die Wissenschaft sagt uns, dass dies mit absoluter Sicherheit Teller und Tasse sind. Die Wissenschaft zeigt uns auch, dass die Tasse auf den Teller gehört und stellt die Tasse auf den Teller. Aber das Al-Hikmah sagt, dass die Tasse in die vorgefertigte Vertiefung im Teller gehört. Das hat im Prinzip nichts mit Weisheit zu tun, sondern mit der Fähigkeit diese Weisheit richtig zu nutzen. Wenn zum Begriff Hikmah das Wort Hawari dazu verwendet wird, dann ergänzt sich das theoretische Wissen zur praktischen Auslegung. Der Koran verpflichtet, nach dem Gebot der fünf Säulen des Islam, dass jeder Moslem zum Freitagsgebet in die Moschee gehen muss. Die Scharia verpflichtet den Moslem innerhalb der islamischen Staaten, dieses Gebot zu befolgen. Die Scharia dispensiert jedoch alle Moslems vor dieser Pflicht, wenn sie sich ausserhalb ihrer Religionsgrenze aufhalten. Dann sollte der Gläubige das normale kurze Mittagsgebet verrichten.
Solches Wissen kann nur vermittelt werden, wenn Christen und Moslems aufeinander zugehen und ihren Glauben untereinander auf gleicher Augenhöhe austauschen. Es braucht nur ein Al-Hikmah auf beiden Seiten, weder eine gegenseitige Anpassung noch ein Konvertieren. Wenn sich das Hikmah mit dem Hawariyin verbündet, nur Wissensaustausch, um Frieden herzustellen. Es gibt keine Feindschaft zwischen Christen und Moslems: « (7) Alläh verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Häuser vertrieben haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich Alläh liebt die Gerechten.» (8)
Der Imam und ich haben immer wieder erfahren dürfen, nachdem Christen die Moschee besucht haben und eine gute Einführung in den islamischen Glauben geniessen durften, sich der Radikalismus und die Distanz zum Mitmenschen eines anderen Glaubens wandelte.
Es ist das Ziel unserer gemeinsamen Arbeit (Hikmah) Distanzen abzubauen, Vorurteile zu entkräften, Frieden und Akzeptanz zu fördern. In stetem Fortschreiten wird unser Projekt, das «Thuner-Modell» immer bekannter in der muslimischen Welt der Schweiz. Verschiedene Imame suchen nach einem christlichen Brückenbauer, um unsere Arbeit weiter zu tragen. Die Christen sind es, die heute fehlen.
Ein weiteres «Problem» am Rande unserer christlichen Glaubenskultur macht dem Imam zu schaffen. Wie soll einem Menschen begegnet werden, der sich als Ungläubiger bezeichnet? Ein Mensch aus der Masse der Konfessionslosen, der zwar Christ geblieben ist, jedoch diesen Glauben nicht mehr praktiziert und sich dadurch als ungläubig zu erkennen gibt. Ein praktizierender Moslem dürfte mit diesem Menschen kein Essen am gleichen Tisch einnehmen. Wir Christen sollten mehr Gespür und mehr Achtung gegenüber unserem muslimischen Mitmenschen an den Tag legen. Es ist sehr viel an Aufbauarbeit und gegenseitiger Kommunikation notwendig, als das heute der Fall ist. Der Ausdruck Ungläubiger könnte nach solchen Erkenntnissen relativiert werden. Ebenso steht es mit der Unkenntnis gegenüber der Scharia. Die echt gelebte Scharia ist keine Bedrohung für unser westliches Rechtssystem, aber die negative Unwissenheit richtet Schaden an.
Zu aller Letzt
Wer sind die muslimischen Mitmenschen in unserer Stadt Thun? Die allermeisten sind über drei Generationen in unserem Land. Schweizer Bürger und Steuerzahler. Tüchtige Geschäftsleute und ebenfalls Stützen unserer Gesellschaft.
(1) Markusevangelium 10, 52: Geh hin, dein Glaube hat dich geheilt
(2) «möge es Gott annehmen»
(3) Kurt Marti, «wo chiemte mer hi wenn alli seite wo chiemte mer hi und niemer giengti für einisch z’luege wohi dass mer chiem we mer gieng.»
(4) Der edle Qur’an, Sure 60, Vers 7 bis 8
(5) Al-Hikmah (arab.); meint «Das Haus der Weisheit»»; ein Konzept der islamischen Wissenschaft zwischen islamischer Philosophie und Recht. Eine Art geistige Disziplin, um den Glauben zu vermitteln.
(6) Der edle Qur’an, Sure 2, Verse 268-269; über die Gabe der Weisheit und Vernunft, auf die sich Al-Hikmah gründet.
(7) Der Hawri oder Hawariyin (arab.) ein Apostel, Gefolgspersonen, Unterstützer, so wurden die dem Mohammed frühen Gefolgsleute, wie Jesus (Isä) genannt.
(8) Der edle Qur’an, Sure 60, Vers 7
Hans H. Weber, christlicher Part, Forum zur Förderung des christlich-muslimischen Dialog
Hinweis: Lesen Sie hier einen Bericht über das erste Thuner Friedensgebet im Jahr 2018
Links
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www.ikre.ch