Umstritten: Papst Pius XII. Foto: wikimedia
Gezeichnet von Gleichgültigkeit
Mit christlicher Nächstenliebe gingen die schweizerischen Kirchen während der NS-Zeit höchst sparsam gegenüber den jüdischen Mitmenschen um.
Mit christlicher Nächstenliebe gingen die schweizerischen Kirchen während der NS-Zeit höchst sparsam gegenüber den jüdischen Mitmenschen um. Solidarische Stimmen waren die Ausnahme, für jüdische Flüchtlinge kam kaum Hilfe, und die Kritik am Dritten Reich bedeutete nicht das Ende der antijüdischen Mentalität. Dynamik entwickelte sich erst 1944.
Judenfreundliche Töne waren in den Debatten kirchlicher Kreise in die NS-Jahren kaum zu hören. Zwar richteten sich die Geistlichen und ihre Publikationen mehrheitlich gegen den gottesverachtenden Nationalsozialismus und die Rassentheorie. Die populären Weltverschwörungstheorien waren aber nicht vom Tisch, und so verfolgten die Kirchen weiterhin ihre Bestrebungen, die angebliche jüdische Macht einzudämmen, was sich auch in antijüdischen Artikeln der damaligen Kirchenpresse bemerkbar machte. Ab 1938, nach der Annexion Österreichs, den «Arisierungen», der Reichspogromnacht und der Einführung des J-Stempels, erhielten kritische Publikationen wie die katholische «Entscheidung» mehr Gehör, waren aber deutlich in der Minderzahl. Kirchliche Stellungnahmen von offizieller Seite zum Umgang mit jüdischen Flüchtlingen in der Schweiz liessen sich an den Fingern abzählen. An der Basis freilich, bei den Kirchgemeinden und Privaten, kam es zu zahlreichen lokalen Initiativen. Ernsthaftere moralische Bedenken traten ab Herbst 1942 auf, als jüdische Organisationen erstmals Informationen über eine systematische Vernichtung der europäischen Juden erhielten (der Bundesrat war bereits im Frühling 1942 im Bild).
Mehrdeutige Zeichen aus dem Vatikan
Im Vatikan wirkte während der ganzen Kriegszeit Papst Pius XII. Seine Rolle beziehungsweise seine Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus und dem Holocaust ist trotz jahrzehntelanger Aufarbeitung weiterhin umstritten. Er äusserte verschiedentlich Kritik, ohne aber die NS-Regierung als Täter oder die Juden als Opfer beim Namen zu nennen. Dennoch erklärte ihn Berlin nach seiner Weihnachtsansprache 1942 kurzerhand zum «Sprecher der jüdischen Kriegsverbrecher». Mit der Erkenntnis, dass öffentliche Mahnungen die Nazis nicht vom Morden abhalten, sondern gar dazu ermutigen würden, verzichtete der Vatikan auf solche Äusserungen und ermunterte gleichzeitig die Bistümer, nach eigenen Abwägungen in ihrem Einflussgebiet aktiv zu werden.
Dies tat denn auch beispielsweise der Apostolische Nuntius in der Schweiz, Filippo Bernardini, ab Sommer 1942. Als Diplomat hatte er von Bern aus die Möglichkeit, geheime Informationen und Dokumente in die vom Krieg betroffenen Länder zu übermitteln. Er unterstützte jüdische Hilfsorganisationen bei der Verteilung von Schutzpapieren neutraler Staaten in besetzte Länder wie Polen; Zu diesen neutralen Staaten gehörten vor allem die katholisch geprägten, südamerikanischen Staaten, von denen denn auch Zehntausende solcher Dokumente in Umlauf kamen. Als vermeintliche Bürger neutraler Länder geschützt und mussten die Besitzer solcher Papiere auch keinen Judenstern tragen.
Unterkühlte Flüchtlingshilfe
Die vollständige Grenzschliessung im August 1942 gegen Juden löste vorübergehend öffentliche Empörung aus und veranlassten den Bundesrat, die neuen Regelungen etwas zu lockern. An der Haltung, Juden nicht als politische Flüchtlinge anzuerkennen, änderte sich nichts. Bemühungen der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe und den angeschlossenen kirchlichen Hilfswerken trugen dazu bei, jene Flüchtlinge im Land zu behalten, die den Weg ins Landesinnere geschafft hatten. Flüchtlinge direkt an der Grenze wurden sofort wieder abgeschoben. Für die Betreuung jedoch hatten der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen und die jüdischen Gemeinden die ganze finanzielle und organisatorische Last allein zu tragen.
Die kirchlichen Dachorganisationen hielten sich, zumindest in der öffentlichen Debatte, ruhig. Nach eigenen Angaben bevorzugten sie die Strategie des Vorsprechens bei den zuständigen Bundesbehörden und Bundesräten. Wie weit in solchen Gesprächen auch die Situation der jüdischen Flüchtlinge zur Sprache kam sei dahingestellt. Zu den Ausnahmen, die auf evangelisch-reformierter Seite die Regel bestätigten, gehörten Karl Barth von der Bekennenden Kirche sowie Paul Vogt vom Zürcher Flüchtlingspfarramt. Als «Flüchtlingsmutter» trat Gertrud Kurz dezidiert für jüdische Flüchtlinge ein und scheute im August 1942 auch nicht den Gang zu Bundesrat Eduard von Steiger.
Der allgemeine Aufschrei von 1944
Erst die Nachrichten vom Frühsommer 1944 sorgten für ein Umdenken. Dank Diplomatenpost aus Budapest erreichten präzise Berichte über die systematische Judenvernichtung aus erster Hand die neutrale Schweiz. Von hier aus lösten diese Informationen nicht nur ein weltweites Echo der Empörung aus. Nun konnten auch die kirchliche Presse und die offiziellen Vertretungen der Kirchen nicht mehr umhin, die Judenverfolgungen dezidiert abzulehnen. Schweigen wäre ab diesem Zeitpunkt nur noch peinlich gewesen. Obschon der Bundesrat seit Sommer 1942 über die Pläne des systematischen Massenmords informiert war, hatte er Juden als «rassisch Verfolgte» nicht als asylwürdige Flüchtlinge ins Land gelassen. Nun sah er sich gezwungen, dies zu ändern. Juden durften sich nun in der Schweiz aufhalten, aber unter der Auflage, nach dem Krieg weiterzuwandern. Der spätere Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, Georges Brunschvig, kritisierte diese Politik im Jahr 1966 öffentlich: «Es ist wohl unbestritten, dass eine Zeitlang unsere Flüchtlingspolitik nicht vereinbar war mit den Grundsätzen eines Rechtsstaates, dem die menschliche Würde integrierender Bestandteil ist.»
Hannah Einhaus
Zum Dossier «150 Jahre Emanzipation der Schweizer Juden»