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Gospel-Train

14.09.2022

Verbot oder Gebot? Kolumne von Sandro Fischli

Diesem Signal schenkte ich bis vor Kurzem kaum Beachtung, da es mir nicht in den Sinn gekommen wäre, die Geleise zu überqueren. Doch plötzlich blieb dieses Bild als Kreuz in mir haften. Kein Weg- oder Gipfelkreuz auf einer Wanderung, keines in einer Kapelle – sondern mitten im Lärm und Tumult und metallischem Staub. Befremdlich ist die Einbettung dieses Kreuzes in eine Verbotstafel, in ein Warnschild, ein Stoppsignal, es signalisiert Lebensgefahr. Warum irritiert mich das so?

Diese Kreuzesdarstellung ist ein Mahnmal. Der Kreuzestod gebietet all unserem Denken Einhalt, lässt uns verstummen. Das Warnschild erinnert mich an den Tod der Berner Künstlerin Ester Altorfer, die ihrem psychischen Leiden ein Ende setzte, in dem sie sich auf die Geleise vor einen Zug stürzte. Ich denke an viele Unbekannte, Ungenannte, die so den Zugverkehr zwischen Thun–Münsingen–Bern zum Unterbruch bringen. Oder mir fallen tragische Unfälle jugendlicher Sprayer ein, auf der Flucht über Geleise.

Ich denke an die Lebensgefahr, in die sich Menschen begeben, die eine radikale Nachfolge leben, an die Gefahr, in die sich Jesus selbst begab und die ihn das Leben kostete. Karl Barth erwähnt in seiner Auslegung der Römerbriefe, wie der Glaube immer angesichts dieser Todeslinie erfolge. Kierkegaard schreibt gar, Christ-Werden sei ein lebenslänglicher Prozess, Christ-Sein zeige sich erst im Tod.

Ich deute das Wort Verbot um in Gebot und denke an die Auslegung von Jesus (Mt 5,21–48), die unser Menschenmögliches zu übersteigen scheint.

Schliesslich fallen mir auf dem Bahnhof die Bezüge vieler Gospel-Songs zur Eisenbahn auf: «Get on Board» (Gospel-Train), «People Get Ready», «This Train» (Is Bound for Glory) – sie alle haben den Aufruf inne, den Zug zu besteigen, der zur Verheissung führt. Will das Schild uns aufrufen, diesen Zug nicht zu verpassen, ihn notfalls anzuhalten? Oder hält ihn der Gekreuzigte für uns auf?

Sandro Fischli