Neue alte Werte entdecken. Foto: iStock/Jay Yuno
Hallo liebe Schweiz!
Es gibt viel zu tun auf dem Weg in eine neugedachte Zukunft
Wir alle leben in einem Ausnahmezustand. Dies nun seit Wochen und wahrscheinlich auch noch für weitere Wochen … Wir hören den Lärm der Mähmaschine von nebenan. Früher hat uns dieser ab und zu ein bisschen genervt. Jetzt, in dieser Zeit, in der wir Abstand halten müssen und zuhause bleiben sollen, sind wir froh, die Nähe von Mitmenschen zu spüren.
Unsere Agenden haben sich auf eine brutale Art geleert. Viele Sitzungen wurden storniert, verschoben auf bessere Zeiten. Wir sind online aktiv. Alles wird schneller und einfacher geregelt. Wir haben das Gefühl, dass wir auf viele Sitzungen verzichten können. Ein Mail genügt. Und der Schulunterricht wird digital durchgeführt. Super. Schnell sind die Aufgaben gemacht und dann kann man gamen. Aber: Es fehlen die Pausen, es fehlen die Kameraden. Es fehlt der Schulhof. Es fehlen echte Kontakte.
Auch wenn eine «normale» Sitzung länger dauert als eine OnlineSession; sie ist humaner, sie ist geprägt von Menschlichkeit, die kein Internet ersetzen kann. Das Virus hat vorwiegend Asien, Europa und Nordamerika im Griff. Interessant: die Wirtschaftspole der Welt. Eine Rezession ist gewiss. Alle wollen diese bremsen. «Bleibt zuhause!» – und alle Labors suchen nach dem Impfstoff. Eine dauerhafte Rezession soll verhindert werden.
Die Schweiz investiert Milliarden. Es werden sicher an die 100 Milliarden notwendig sein. Und dann werden wir alle mithelfen müssen, die Schulden zu begleichen. Das Virus beweist uns, dass unsere Gesellschaften weltweit sehr fragile sind. Wirtschaft, Gesundheitswesen, Kultur und Politik stossen an ihre Grenzen. Das ist für uns alle eine wichtige Feststellung. Wir müssen in Zukunft besser und gezielter investieren; dort, wo es auch dringend notwendig ist. Und wir müssen effizienter die Zukunft der Gesellschaft planen. Was hat Priorität?
Mobilität, Nachhaltigkeit, neue Werte: Slogans in einer Krisenzeit. Die Rolle des Staates wird grösser. Die Regierung beweist es in diesem Notzustand, indem sie klare Massnahmen trifft und auch das Gleichgewicht zwischen Gesundheit und Wirtschaft sucht. Die Bevölkerung hat die Dringlichkeit der Massnahmen erkannt und verhält sich zum grossen Teil sehr verantwortungsvoll.
Wenn nun aber die «Normalität» wieder einkehrt, irgendwann einmal, dann werden wir uns fragen müssen, was diese «Normalität» denn eigentlich ist. Kann es sein, dass wir immer mehr und besser produzieren müssen, um kompetitiv zu sein? Ist es notwendig, dass wir Tulpen im November kaufen, Erdbeeren an Weihnachten, Trauben im Januar? Müssen wir regelmässig ein Wochenende im Ausland verbringen und dazu eine LowCostFluggesellschaft benützen? Müssen wir unbedingt mit dem Flugzeug von A nach B, um eine Stunde vor dem Zug dort anzukommen? Sollten wir nicht vermehrt in unmittelbarer Nähe Lebensmittel, die wir brauchen, produzieren, anstatt in der Ferne einzukaufen?
Einfache Fragen: Die Antworten sind jedoch nicht so einfach. Es braucht ein globales Konzept, das die ganze Welt betrifft. Die Globalisierung zeigt auf, dass wir eben nun nicht mehr allzu global denken sollten und eher bescheiden vor Ort so leben müssen, dass die Natur, die Schöpfung so wenig wie möglich ausgeschöpft wird.
Diese Entglobalisierung hat einen Preis. Wenn nun ein Bauer seine Erdbeeren an Weihnachten uns nicht mehr verkaufen kann, müssen wir ihm helfen, sich umzuorientieren, damit er weiterhin von seinem Beruf leben kann. Da tragen wir alle weltweit die gleiche Verantwortung, weil wir alle weltweit dazu beigetragen haben, dass die Globalisierung zum Trend des 20. Jahrhunderts wurde. Und genauso sind alle Politiker*innen weltweit gefordert. Auch bei uns in der Schweiz. Wir sind ein kleines Land. Aber wir können ein Beispiel sein für viele. Kleine Zeichen setzen in einem Land, in welchem vieles möglich ist. Wir können andere Länder gewinnen, um mit ihnen diplomatische Bündnisse einzugehen, um klare Massnahmen nicht nur vorzuschlagen, sondern auch umzusetzen.
Es braucht nur ein paar mutige Menschen. Vor ein paar Hundert Jahren waren es nur drei Männer, die den Bund geschworen hatten. Ein Bild, ein Zeugnis – aber was für ein Zeugnis. Ja, liebe Schweiz, die Welt braucht neue Werte. Nicht morgen, sondern heute. Wir lernen in dieser Krisenzeit bescheidener zu leben. Wir stellen fest, dass es auch so geht. Wir brauchen nicht immer den letzten Trend. Wir kommen mit weniger aus. Wir entdecken aber auch andere Realitäten, die wir fast vergessen hätten. Ein Gruss dem Nachbarn, ein Lächeln im Treppenhaus, ein neues Familienleben und vieles mehr. Das alles sind neue Werte, die uns tief glücklich machen können. Warum sollten wir diese dann wieder vergessen, wenn die «Normalität» zurückkehrt?
Zu diesen Werten gehören auch die spirituellen Werte. Wie viele Menschen besinnen sich neu auf das Innere, das intimste Ich in ihrer Seele. Wie viele Menschen suchen nach Antworten, nach spirituellen Antworten. Gott schenkt sie ihnen. Und wir Kirchen müssen ihnen dabei helfen. Wir müssen die Türen unserer sichtbaren und unsichtbaren Kirchen öffnen und alle einladen, aufzutanken im Gebet und in den Sakramenten.
Es kann nicht sein, dass man wieder in den Restaurants einkehren, sich aber nicht in die Kirchen zum Gottesdienst einfinden kann. Wir Pfarreien bieten die gleichen hygienischen Massnahmen an wie die Restaurants. Warum dürfen wir dann nicht Gottesdienste feiern? Die Menschen wünschen sich die Eucharistie, sie wünschen sich die Gemeinschaft der Gläubigen. Gerade jetzt, wo die Welt nach Sinn lechzt, nach Gott ruft, müssen wir die Kirchen neu beleben.
Hallo, liebe Schweiz, du hast vieles zu tun. Du kannst aber auch vieles tun, weil du stark bist, weil du immer wieder bewiesen hast, dass die Einheit in der Vielfalt die richtigen Antworten findet. Hallo, liebe Schweiz, hab keine Angst, steh auf und denke deine Zukunft neu und auch die der entglobalisierten Welt. Du wirst nur wissen, wozu du fähig bist, an dem Tag, an welchem du es auch versuchst. Ich mache jedenfalls mit!
Nicolas Betticher, Pfarrer, Pfarrei Bruder Klaus Bern