Tier und Mensch: Eine Symbiose, die offensichtlich auch an der Orgel funktioniert. Foto: Wolfgang Holz
Harmonie der besonderen Art
Organist Sándor Bajnai und seine treue Begleiterin Lily
Mensch und Tier. Eine Lebensgemeinschaft, die seit Urzeiten funktioniert und immer wieder neue Formen zeitigt. Im Fall des katholischen Organisten Sándor Bajnai ist es Hündin Lily, die ihn seit gut einem halben Jahr an den Orgeln in Berner Kirchen Gesellschaft leistet. Das heisst: Der 34-Jährige greift in die Tasten. Die zehn Monate alte Border-Collie-Hündin macht derweil ein Nickerchen.
von Wolfgang Holz
Auf den ersten Blick staunt man einfach. Sándor Bajnai, Organist der christkatholischen Kirche in Bern lässt in voluminösen Tönen die Orgel im Gottesdienst sprechen. Er zieht weitere Register, um die Klangfülle zu steigern. Das Orgelspiel wird immer lauter… Hündin Lily liegt derweil neben ihm auf dem Boden und döst seelenruhig vor sich hin.
Lily ist erst zehn Monate alt
Erst als der Schlussakkord andeutet, dass sich die Messe und das Orgelspiel dem Ende zuneigen, regt sich die Border-Collie-Hündin. Als ihr Herrchen schliesslich aufsteht, schüttelt sich Lily und wedelt vor Freude mit dem Schwanz.
Zehn Monate ist Lily erst alt. Und doch hat die Hündin schnell begriffen, wann sie sich ruhig verhalten muss. Wenn Organist Sándor Bajnai an der Orgel spielt. Oder wenn beide eine Kirche betreten. «Sie hat noch nie im Gotteshaus gebellt», versichert der 34-Jährige. Auch wenn er an einer Besprechung teilnimmt, verkriecht sich Lily wohlig unterm Sitzungstisch und verhält sich mucksmäuschenstill.
Ständig auf Achse
Die Lebensgemeinschaft von Sándor Bajnai und Hündin Lily ist alles andere als alltäglich. Denn der Organist, der in drei Kirchgemeinden in Bern Orgel spielt und auch noch einen Chor betreut, ist ständig auf Achse.
Vor sieben Jahren ist der gebürtige Ungar in die Schweiz gekommen. Seit 2021 wohnt er in Genf, wo ihm die französische Lebensart gefällt, und pendelt nach Bern zur Arbeit. Lily ist stets treu an seiner Seite. «Sie verleiht mir so viel Energie – es ist wirklich eine Art von Liebe», bekennt er. Sie sei inzwischen wie eine Lebenspartnerin für ihn.
Als Kind Ministrant
Schon von früher Kindheit an war er als Ministrant im ungarischen Dorf Bakonyszentlaszlo, 50 Kilometer entfernt von Györ, vom Orgelspiel in der katholischen Kirche fasziniert. «Mit 14 habe ich eine Kirchenmusikerausbildung jeweils an Wochenenden begonnen», erzählt Sándor Bajnai, das jüngste von vier Kindern in der Familie.
Nach der Matura studierte der junge Mann an der Universität in Budapest die Fächer Musik und Chorleitung sowie Kulturmanagement. Er schloss mit einem Bachelor ab und jobbte dann in der ungarischen Donaumetropole.
Entschloss sich, im Ausland neu zu orientieren
«Mein Problem war, dass ich als Organist zwar arbeiten konnte, doch davon konnte ich nicht leben, weil ich nur pro Gottesdienst bezahlt wurde», berichtet er. Andererseits habe er im Kulturmanagement keine Anstellung bekommen.
Nach dem überraschenden Tod seines Vaters, der ihn längere Zeit sehr belastet habe, entschloss sich der Ungar, sich im Ausland neu zu orientieren. Da er wusste, dass ungarische Musiker im Berner Symphonieorchester mitspielten, entschloss er sich, in die Schweiz zu gehen. «In Bern gab man mir dann zunächst als unbezahlter Hospitant im Orchestermanagement eine Chance. Dann erhielt ich ein Praktikum» sagt Bajnai. Schliesslich machte ihn ein Pfarrer darauf aufmerksam, dass in der katholischen Kirchgemeinde Belp ein Organist gesucht wurde.
Inzwischen ist er dort der erste Mann an der Orgel. Zudem sitzt er in der reformierten Kirchgemeinde Bätterkinden an der Orgel. Seit 2018 ist er offiziell als 2. Organist bei der christkatholischen Pfarrei in Bern angestellt, wo er in der Kirche St. Peter und Paul spielt.
Seit letzten Juli begleitet ihn Lily
Seit Juli letzten Jahres ist Lily bei ihm. «Ich habe mich schon immer mit dem Gedanken herumgetragen, mir einen Hund anzuschaffen», erzählt der Single.
Nach einer Chorprobe teilte ihm ein Sänger mit, dass seine Schwester Welpen habe. Da Lily zur Hälfte von einer ungarischen Hündin abstammt, empfindet er durch ihre Nähe auch eine gewisse heimatliche Verbundenheit.
Zu Beginn sei es noch ein bisschen schwer gewesen, nun plötzlich mit einem Hund zusammenzuleben. «Doch ich habe mich anfänglich viel um Lily gekümmert. Ich bin mit ihr viel draussen in der Natur gewesen und habe sie trainiert.»
Ein Ritual, das Sándor Bajnai auch pflegt, wenn er Orgeldienst hat. «Bevor ich in die jeweilige Kirche fahre, gebe ich Lily viel Auslauf und Freiraum, damit sie dann ein bisschen müde ist, wenn ich Orgel spiele.» In den Kirchen selbst würden sich die Gläubigen inzwischen freuen, wenn er mit Lily auftaucht. «Dann wird sie immer gern von einer älteren Dame in der Gemeinde gestreichelt.»
An Beerdigungen «weint» Lily mit
Ein «Spezialität» hat Lily bei Beerdigungen kreiert. «Wenn ich bei Abdankungen an der Orgel sitze und spiele, kann es sein, dass Lily manchmal im Traum unbewusst mit weint», beschreibt der Organist.
«Hunde haben ein sehr gutes Gespür dafür, wenn in einer Situation Emotionen im Spiel sind, wenn die Menschen zum Beispiel Trauer empfinden.» Zu einer Art Therapiehund werde Lily, wenn er im Demenzzentrum in Belp Orgel spiele.
«Ich möchte mit Lily noch mehr in diesem Bereich weiterarbeiten.» Insbesondere will er seine Hündin in Zukunft auch ins Gefängnis mitnehmen, wo er in Thorberg schon seit vielen Jahren die Gottesdienste mit den Häftlingen musikalisch gestaltet hat. «Diese Gottesdienste sind immer sehr speziell, und die Gefängnisinsassen zeigen sich sehr dankbar», erklärt Bajnai.
Mit Lily auch viel in der Natur
Doch Lily ist nicht nur Sándor Bajnais treue Assistentin an der Orgel. Sie macht ihm auch viel Freude, wenn der Naturfreund in die Berge zum Wandern geht oder Skitouren unternimmt. Denn der Ungar ist ein respektabler Alpinist. Er hat schon den Eiger und den Mont Blanc bestiegen.
«Wenn Lily dann im Tiefschnee herum hüpft wie ein kleines Kind, macht mir das jedes Mal grosse Freude und berührt mich sehr.» Sagt›s und strahlt. Und streicht Lily mit ihren lieben, grossen Augen über den Kopf.