Die Heitere Fahne ist ein spezieller Kulturbetrieb ... Foto: zVg

Heitere Fahne flattert für ein Miteinander

31.10.2018

Ein Kulturbetrieb der Sonderklasse.

Die «Heitere Fahne» in Wabern als Kulturbetrieb zu bezeichnen, ist etwa so wie ein Siebengänge-Menu schlicht Z’Mittag zu nennen. Die Erklärung «Sozial-integrativ arbeitendes Kollektiv mit gastronomischem Angebot» wiederum kratzt etwas im Hals. Wir haben «Heitere Fahne-Luft» geschnuppert und eine Theateraufführung besucht.

von Christina Burghagen


«Ach, wie wunder, wunderschön, ist die weite, weite Welt ... ja, das Leben ist doch wunder, wunderschön.» Der Liederabend «Über Stock und Stein» des Theaters Frei_Raum beginnt mit dem Lied «Wir wandern», das von sieben gesangsstarken Frauen und Männern in den prächtigen Saal der ehemaligen Brauereiwirtschaft getragen wird.

Einst fanden hier die Banketts und Bälle der Gurtenbrauerei statt. Heute ist das Gebäude ein inklusiver Frei_Raum-Palast, in dem Kultur, Theater und Gastronomie zusammenkommen. Die Gäste des Theaters sitzen gemütlich an alten Holztischen vor ihrem Getränk und folgen gebannt dem Bühnengeschehen. In jeder Ecke des weitläufigen Saals bleibt der Blick hängen an einem Dekorationsobjekt, einem liebevoll instand gesetzten Möbel oder an den Menschen, die sich herzlich und herzig begrüssen.

«Der inklusive Charakter des Ortes ist durch die Mitarbeit und Offenheit von Projekten für Menschen mit und ohne Behinderungen, Menschen mit Migrationshintergrund, Kinder und Jugendliche, Menschen mit psychischen Herausforderungen, sowie Menschen, die sich in sozial schwierigen oder abhängigen Situationen befinden, geprägt», wird auf der Website erklärt.

Zwei junge Männer des Ensembles weisen eine geistige Behinderung auf, oder wie es in der Heiteren Fahne-Sprache heisst «Besonderheit». Und das trifft es viel besser. Es geht in der Inszenierung unter der Regie von Meike Schmitz nicht darum, gehandicapte Menschen vorzuführen oder mitzuziehen. Die beiden Schauspieler sind Bühnenkollegen, die ihre Rolle mit einer Leidenschaft füllen, die von den «Normalen» nicht zu toppen ist.

Das Niveau des Laientheaters lässt das Ensemble Frei_Raum weit hinter sich. Denn das Konzept sieht es vor, dass professionelle Schauspielende mit Menschen mit Behinderung zusammenarbeiten. Das Stück «Über Stock und über Stein» stellt die Fragen: Wie werden wir zu dem, was wir sind? Ist es Schicksal, oder sind es Entscheidungen, die unseren Weg bestimmen? Die Wanderung der sieben Schauspielenden führt durch drei Lebensgeschichten.

Als Basis dienten reale Interviews von Dramaturgin Rahel Bucher. Erzählt wird von einer Skilehrerin auf der Suche nach ihren Grenzen, einem Eriteer und seiner Flucht nach Bern und einem Mann, der sich schwer erkrankt mitten im Leben auf die letzte Reise begibt. Die nachdenklich machende szenische Kost wird versüsst mit Liedern wie «Ich brauch Tapetenwechsel» (Hildegard Knef), «J’arrive a la ville» (Lhasa) oder «Dancing in the moonlight» (King Harvest).

Zum Finale setzt der Frei_Raum-Chor ein mit dem Rio Reiser-Lied «Übers Meer»: «So viele Jahre und so viele Sterne ist es schon her, seit wir draussen sind auf dem Meer.» So manchen Gast im Saal glitzert ein Tränchen im Auge. Denn die eben erlebten Träume, Schicksalsschläge, Verabschiedungen und Neuanfänge bringen in jeder und jedem Emotionen zum Klingen. Vor zehn Jahren begann die Geschichte des Vereins Frei_Raum, mit der Gründung des Festivals «Säbelibum» das es sich zur Aufgabe machte einen bunten Rummel voller Lebensfreude mit Speis und Trank, Musik und Tanz, Spiel und Spass an wechselnden Orten auf die Beine zu stellen.

Der Name «Säbelibum» entstand aus dem ersten Festival-Motto «Piraten» im Lorrainbad, von dem der Säbel stammt und dem die Musik dazu das «Bum» spendierte. Im Jahr 2012 schlüpfte das Theater Frei_Raum mit Aufführungen im Progr. Ein Jahr später entdeckte Rahel Bucher bei einem Spaziergang auf dem Gurten zusammen mit ihrem Mann den Gebäudekomplex der Brauereiwirtschaft – beziehungsweise, was davon übrig war.

Mehrere Jahre hatte niemand mehr einen Fuss in die Liegenschaft gesetzt, und in der Gaststube lagen noch mumifizierte Pouletschenkel auf den Tellern, was von einem raschen Aufbruch der letzten Betreiber zeugte. Der Trägerverein Kollektiv Frei_Raum mietete die Liegenschaft, entrümpelte, entmüllte und renovierte. Bis heute wurden rund 250’000 Franken an Arbeitsstunden und Material investiert. Der Betrieb beschäftigt 30 Mitarbeitende, 20 davon erhalten einen festen Lohn von 1500 Franken monatlich, die verbleibenden zehn Angestellten erhalten sich mit ihrer Invalidenrente oder finanzieren sich anderweitig.

Die Gaststube hat mit kleinem Saal 100 Plätze, im Festsaal finden bestuhlt 150 Menschen, ohne Bestuhlung 300 Menschen Platz. In der alten Kegelbahn rollen zwar keine Kugeln mehr, dafür wird sie für Tagungen oder Theater genutzt. Im Atelier ist reichlich Platz fürs Malen, Basteln, Tüfteln, Workshops und Kindernachmittage. Auch eine Werkstatt für allfällige Reparaturen steht zur Verfügung. Die Küche kann 250 Essen bewältigen.

Zu den sanitären Anlagen kam jüngst t ein rollstuhlgängiges WC hinzu. «Kultur für alle» sind keine leeren Worte in der Heiteren Fahne. Die Preise in der Beiz sind bewusst tief gehalten, die Veranstaltungen werden fast ausschliesslich übers Kollektenprinzip finanziert, damit niemand draussen bleiben muss, der nichts bezahlen kann. «Wir befinden uns in einem Prozess, in dem wir uns fragen, wie wir uns noch besser strukturieren können.

Die flachen Hierarchien unseres Betriebskollektivs bergen auch Konfliktpotential», sagt Rahel Bucher, unter anderem zuständig für das Kulturprogramm der Heitere Fahne. «Nach aussen glänzt die Heitere Fahne, nun beschäftigt uns, wie wir auch die inneren Prozesse und den Alltag etwas ruhiger gestalten können. Denn der Betrieb verlangt immens viel Einsatz. Das Stichwort ist Work-Life-Balance». Im Kulturprojekt 2019/2020 Projekt «Futura Fantasica» fragt sich das Betreiberteam, wie sie gelebt haben wollen – in 40 Jahren?

Rahel Bucher wünscht sich, dass die Heitere Fahne ein Modell und Vorreiterin für weitere Betriebe mit Kultur, Sozialem, Beiz und Herzblut wird, in denen nicht das Geld, sondern der Mensch und die Lust am Miteinander im Mittelpunkt steht.

 


Geburtstags-Orient-Express am 9. und 10. November

Die Heitere Fahne feiert am 9. und 10. November ihren fünften Geburtstag. Die abenteuerlustige Party unter dem Motto «Orient-Express» bietet den Besucher*innen am Freitag von 17.00 bis 19.00 einen «Tag der offen Tür». Dîner Moules et Frites beginnt um 18.00. Ab 20.00 spielt die Walliser Band «Coconut King» amerikanische, schwarze Musik von 1900 bis 1960: Swing, Blues, Soul, Delta-Blues und vor allem Rhythm’nBlues, sowie Rock’n’Roll und Rockabilly.
Am Samstag öffnet die Salon Bar um 17.00, ab 18.00 folgt das Geburtstags-Dîner. Die grosse Jubiläumsshow geht ab 20.00 über die Bühne. Ihren ganz eigenen Sound aus Latino und orientalischer Mystik spielt die Berliner Band «Il Civetto» ab 23.00 zum Abtanzen. Nach dem Konzert heisst es Aprés Dancing mit DJ Mich.

Reservierungen unter www.dieheiterefahne.ch. Kollekte. Heitere Fahne - die Idealistenkiste, Dorfstrasse 22/24, Wabern.

 

Drei Jahre Finanzspritze der Kirche
Die römisch-katholische Kirche der Region Bern fördert mit 70'000 Franken pro Jahr bis 2020 den Kulturbetrieb der «Heitere Fahne». Der Grosse Kirchenrat beschloss im September einstimmig die Unterstützung der sozial-integrativen Aktivitäten des verantwortlichen Kollektivs Frei_Raum in Wabern, Dorfstrasse 22/24, unterhalb der Gurtenbahn Talstation.