Auf dem Podium herrschte Einigkeit: Hilfe soll bedingungslos sein. Foto: Sylvia Stam

Hilfe ist kein Tauschverhältnis

Ein Podium der kirchlichen Gassenarbeit über bedingungslose Hilfe

Auf einem Podium der kirchlichen Gassenarbeit Bern war man sich einig: Hilfe für Bedürftige sollte nicht an Bedingungen geknüpft sein, denn Nächstenliebe sei bedingsungslos.

Sylvia Stam

«Mitwirkungspflicht» – dieser Begriff kennzeichnet den Paradigmenwechsel, der sich in der Sozialarbeit vollzogen hat. Dies sagte Christoph Gosteli vom Vorstand der Kirchlichen Gassenarbeit zu Beginn des Podiums, das am Montagabend im Stellwerk Bern stattfand.

Mitwirkungspflicht bedeutet, dass die Auszahlung von Sozialleistungen an Bedingungen geknüpft wird, die verlangen, dass die Betroffenen selbst mitwirken, um aus ihrer Notlage herauszukommen. Das Gegenstück zur Mitwirkungspflicht ist die «bedingungslose Hilfe». So lautete denn auch der Titel des Podiums, das an die Hauptversammlung des Vereins anschloss.

Welfare statt Workfare

Kurt Wyss, Autor eines Buches über Workfare, erläuterte, was mit diesem Begriff gemeint ist: Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt ein Mensch ohne Erwerbstätigkeit ein Dokument mit Stempel, das zum Bezug von Arbeitslosengeld berechtigte, «ohne Wenn und Aber», so Wyss. Dies nannte man Welfare. In den 90er-Jahren sei man dazu übergegangen, die Leute möglichst rasch zurück ins Arbeitsleben zu integrieren; der Fachbegriff hierfür: Workfare. Der Soziologe erinnerte daran, dass die RAV-Zentren erst 1996 eingeführt worden seien.

Benjamin Scotoni, Sozialarbeiter bei der Gassenarbeit Biel, und Andrea Meier, katholische Theologin und Geschäftsführerin der Offenen Kirche Bern, bestätigten, dass dieser Druck zur Mithilfe in den Sorgen der Sozialhilfebeziehenden deutlich wird. Etwa bei jenen, die das Café der Offenen Kirche beim Hauptbahnhof Bern frequentierten. «Sie haben nicht das Gefühl, die Sozialarbeiter:innen würden ihnen helfen; sie haben vielmehr Angst, Fehler zu machen, etwa beim Ausfüllen all der Formulare.»

Not strukturell bedingt

Selbst den Freiwilligen, die sich in der Offenen Kirche engagieren, steckt die kapitalistische Logik in der DNA. Dies zeige sich in Aussagen wie: «Das darf man doch erwarten!» Hier gelte es, den Freiwilligen in Gesprächen aufzuzeigen, dass Not nicht individuell, sondern strukturell bedingt sei. Dennoch räumte sie ein, dass die Grenze zwischen akzeptablem und nicht akzeptablem Verhalten dünn sei.

Kurt Wyss erinnerte daran, dass die Bundesverfassung in Artikel 12 das Recht auf Hilfe in Notlagen vorsieht, damit Menschen würdig leben können. Sozialhilfe sei somit kein Almosen, sondern ein Recht, das jedoch nicht immer eingehalten werde.

Die Religion gebietet bedingungslose Nächstenliebe, fügte Andrea Meier hinzu, in dieser Runde die einzige Kirchenvertreterin. Ein gläubiger Mensch sei sich bewusst, dass er oder sie Zuwendung oder Liebe nicht selbst herstellen könne. Nächstenliebe oder Gassenarbeit sei denn auch keine Handelsbeziehung und Hilfe kein Tauschgeschäft, sondern vielmehr ein Geschenk: «Wenn ich etwas schenke, ist es weg.» Meiers Aussagen an diesem Abend waren erfrischend konkret, im Vergleich dazu blieben jene von Benjamin Scotoni und Anna Bosshard von Avenir Suisse etwas blass.

Viel Überzeugung, wenig Argumente

Auch die Gassenarbeit Biel setzt auf bedingungslose Hilfe. Jede Person bekommt eine Übernachtung und Essen für ein bis zwei Tage, auch anonym. Erst danach werde geschaut, wie es weitergehen könne, sagte Benjamin Scotoni. Er sei überzeugt, dass bedingungslose Hilfe die eigene Motivation der Betroffenen mehr stärke als Sanktionen von Vorgesetzten.

An Überzeugungen fehlte es nicht auf dem Podium, auf dem keine Person sass, die sich gegen Welfare aussprach. Abgesehen von dem Hinweis, dass die Not der Betroffenen strukturell bedingt sei, und einer allgemeinen Kritik am Kapitalismus, fielen auf dem Podium kaum Argumente, weshalb Welfare der Workfare vorzuziehen sei. Hier hätte ein kontroverses Podium die Diskussion spannungsreicher gestalten und der Thematik mehr Tiefe verleihen können. So blieb das Podium ein Gespräch unter Gleichgesinnten, die einander nicht durch gegenteilige Positionen herausforderten.