Voller Trauer: Bischof Felix Gmür an der Friedenskundgebung in Solothurn. Foto: Vera Rüttimann

«Ich brauche euch, deshalb komme ich zu euch»

07.03.2022

Bischof Felix Gmür an Friedensdemo

An der Friedenskundgebung in Solothurn ist am Freitagabend auch Bischof Felix Gmür aufgetreten. Er stieg von der Treppe hinunter in die Menge und sprach von seiner Ohnmacht angesichts des Schreckens des Krieges. Vor Ort wurden Hilfsgüter für die Ukraine gesammelt.

Von Vera Rüttimann, kath.ch

Der russische Angriff auf die Ukraine treibt auch die Menschen in Solothurn auf die Strasse. Auf dem Weg zur Kundgebung auf dem Kreuzackerplatz treffen sie auf einen grossen Lastwagen mit Anhänger.

Freiwillige Helferinnen und Helfer verladen hier Hilfsgüter für die Opfer des Krieges. Es sind Spenden, die Leute aus Solothurn und Umgebung spontan vorbeigebracht haben. Auch Arzneimittel sind darunter – für verletzte und kranke Ukrainierinnen und Ukrainer.

Im Laufe des Abends sollen es noch etliche mehr werden. Am kommenden Montag fährt der Transporter an die ukrainische Grenze und wird die Hilfsgüter verteilen.

Der Hilfsgüter-Transporteur

Gefahren wird er von Fritz Scheidegger. Der kräftige Mann mit der markanten weissen Brille hat diese Aktion organisiert. Der Unternehmer hat einen besonderen Bezug zu diesem Land. Mit 28 hatte er einen Herzinfarkt und hat sich entschieden, zwei Jahre in der Ukraine zu leben.

«Diese Leute haben mir geholfen, sie haben mir gegeben und hatten selber nichts», erzählt er. Genau deshalb stehe er heute hier, sagt Fritz Scheidegger, der mit Elena, einer Ukrainerin, verheiratet ist.

Mit Hilfsaktionen hat der Rothrister Erfahrung: Schon 2015 hat Fritz Scheidegger eine grosse Ladung an Spenden in einem Truck in die Ukraine gefahren. Der Krieg sei jedoch immer wieder neu schrecklich und hinterlasse geschädigte Menschen: «Gestern habe ich von einer 76-jährigen Frau gehört, die keinen Strom mehr hat, weil das Stromaggregat in ihrer Stadt bombardiert wurde.»

Flaggen sind ausverkauft

Über vierhundert Menschen haben sich auf dem Kreuzackerplatz versammelt, als die Solothurner Stadtpräsidentin Stefanie Ingold das Wort ergreift. Mit Blick auf die vielen ukrainischen Landesfahnen in der Menge sagt sie: «Wer eine ukrainische Landesfahre ergatterten will, der muss derzeit mit Lieferfristen von zwei bis drei Wochen rechnen.» Sie habe eine von Schülern genähte Flagge erhalten. Dieses Beispiel zeige viel über die überwältigende Solidarität mit der Ukraine.

Weiter sagt die Stadtpräsidentin: «Wir stehen hin und zeigen, dass wir mit den Opfern von diesem schlimmen Krieg mitfühlen, und dass uns ihr grosses Leiden betroffen macht.» Neben ihr steht Lukas Paul Spichiger, der die Kundgebung organisiert hat.

Entsetzen und Schlafprobleme

Auch Erika Genillard aus Biberist spricht auf der Bühne.  «Ich bin sehr entsetzt über das, was passiert ist in dieser Woche. Man sagte doch nach dem zweiten Weltkrieg: Nie wieder Krieg. Und jetzt das», sagt die Frau im Rollstuhl.

Dann spricht der Ukrainer Sascha, der seinen Nachnamen nicht bekannt geben will. Der IT-Experte spricht von einer Protestaktion, die er in Bern auf die Beine stellen will. «Ich organisiere das, weil ich nicht ruhig sein kann. Ich kann nicht schlafen, wenn ich an meine Freunde und Eltern in der Ukraine denke.»

Bangen um die eigenen Eltern

Bedrückend sind die Sätze einer Ukrainerin, die auf der Bühne sagt: «Ich stehe jeden Morgen auf, rufe meine Eltern an und bete dabei, dass sie den Hörer noch abheben.» 

Um 19 Uhr läuten die Glocken der Kathedrale St. Ursen. Die Leute schauen an das gelb erstrahlte Gotteshaus in der Ferne. Andere blicken auf die Mitte des Platzes. Dort haben die Kundgebungsteilnehmer:innen mit Kerzen und Blumen ein riesiges Friedenssymbol gestaltet. Die Blumen wurden von einem Floristenladen in Bern gespendet. «Im Gebet fühle ich mich mit den Opfern des Krieges verbunden», sagt ein Teilnehmer.

Felix Gmür mittendrin

So geht es auch Bischof Felix Gmür. Auf seine Worte sind die Anwesenden gespannt. Nur einen kurzen Augenblick hält es den Bischof von Basel auf der Treppe, nachdem er das Mikrofon in die Hand genommen hat. 

Zur Verblüffung vieler steigt er hinunter und geht mitten in die Menschenmenge. Sie erlebt einen emotional aufgewühlten Kirchenmann. Felix Gmür sagt: «Ich brauche euch, deshalb komme ich zu euch. Ich kann hier oben nicht allein sein.»

Felix Gmür steht jetzt am Rande des Kerzenmeeres und sagt: «Ich bin traurig, und ich bin kaputt. Ich bin kaputt, weil ich sehe, wie so viele sterben.» Er leide darunter, weil er sich so ohnmächtig fühle. Weil er an jeden einzelnen denke und nur noch weinen könne. «Mir fehlen die Worte, wenn ich die Schrecken des Krieges sehe.»

Gott, wo bist du?

Felix Gmür bedankt sich bei den Leuten für die Kerzen, die guten Gedanken und die Spenden. «Ich danke euch, dass ihr bereit seid, Menschen, die flüchten müssen, hier aufzunehmen.» Er denke dabei aber auch an die viele anderen Flüchtlinge und an andere Kriege wie in Syrien, Irak oder Afghanistan. Angesichts dieser Kriege frage er sich: «Gott, wo bist du?»

Er sei gedanklich zudem verbunden mit den Russinnen und Russen, die keinen Krieg wollten und dagegen protestierten, das aber nicht so frei könnten wie wir. «Da kommen mir die Tränen. Dann bin ich gelähmt», bekennt er. Deshalb sei er froh, dass er beten könne.

Friedensgebet von Schwester Marie Grace

Am Schluss zitiert Felix Gmür aus einem ökumenischen Friedensgebet von Schwester Marie Grace aus Kenya: «Uns fehlen die Worte, wenn wir die Schrecken des Krieges sehen, wenn wir erkennen, wie ohnmächtig wir sind, wenn wir von Trauer und Wut überrumpelt sind. Dann bist du es, der uns die richtigen Worte gibt.»

Viele folgen Felix Gmür und zünden im Lichtkreis eine Kerze an und verharren still. Es war ein Abend, der selten gesehene Bilder und Stimmungen erzeugte. Er wird bei vielen wohl noch lange nachwirken.