Die junge russische Jazzmusikerin Marina Sobyanina lebt in Bern und stammt aus Moskau. Foto: zVg

«Ich lebe jeden Tag unter dieser Wolke»

13.04.2022

Wie das Leben einer russischen Musikerin aus den Fugen geraten ist

Marina Sobyanina und Tamara Lukasheva, zwei international bekannte Musikerinnen, haben sich an der Hochschule der Künste in Bern kennengelernt. Damals hatten sie ein gemeinsames Musikprojekt. Dass Marina aus Russland und Tamara aus der Ukraine kommt, spielte keine Rolle – bis vor kurzem. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist das Leben der beiden aus den Fugen geraten. Marina Sobyanina erzählt.

Aufgezeichnet von Sophie Schudel

Ich kann im Moment manchmal nur noch stündlich vorwärts planen, weil ich sonst in Panik gerate. Ich weiss nicht, wann ich meine Familie zum nächsten Mal sehen werde. Es sieht so aus, als ob Russland wieder eine Art Sowjetunion wird, durch einen eisernen Vorhang abgeschlossen, und ich habe Angst, dass ich plötzlich nicht mehr ausreisen kann, selbst wenn ich es schaffe, nach Russland einzureisen. Mein Sohn hat meine Mutter erst einmal gesehen. Meine Mutter und meine Schwester leben in Russland, die Verwandten meines Schwagers in der Ukraine. Ich habe viele Freunde in verschiedenen ukrainischen Städten.

Am Telefon spricht meine Mutter nicht ganz offen mit mir, sie hat Angst. Sie sagt aber auch öffentlich, dass sie gegen den Krieg ist. An der Bushaltestelle in der Stadt, aus der ich komme, sprechen alle nur darüber, dass in der Ukraine Faschisten sitzen und dass die Ukraine befreit werden muss. Diese Leute haben die Propaganda verinnerlicht. Meine Freund:innen und Bekannten in Russland sind alle wie ich entsetzt. Viele von ihnen sind ins Ausland geflohen, zum Beispiel in die Türkei. Meine Schwester arbeitet mit Kindern. Sie sagt, dass sie die Kinder so kritisch und unabhängig wie möglich erziehen will. Das ist vielleicht der beste Protest.

Ich lebe jeden Tag unter dieser Wolke, dass im Namen meines Landes Menschen in einem anderen souveränen Land getötet werden. Dieses Gefühl lastet wie ein 50 kg-Sack auf meinen Schultern. Ich kann nicht anders, als daran zu denken. Ich wache auf, und als erstes denke ich daran, dass Menschen umgebracht werden.

Ich will nicht jammern. Im Vergleich zu dem, was Tamara erlebt oder die Menschen in der Ukraine, ist das nichts, aber mein Alltag ist komplett verändert. Ich habe normalerweise viele Aufträge aus Russland, ich hätte zum Beispiel ein Ballett geschrieben für ein Theater in Perm mit einer russischen Regisseurin, die in Berlin wohnt. Natürlich wurde es abgesagt. Russische Theater dürfen nicht mit Künstler:innen aus «feindlichen» Ländern arbeiten, die Sanktionen eingeführt haben. Wir sind jetzt gefangen: Hier werde ich als Russin gesehen, in Russland bin ich Bewohnerin eines feindlichen Landes. Mit den russischen Projekten ist also jetzt Schluss. Ich werde meine künstlerische Tätigkeit auf Europa konzentrieren müssen.

Dass russische Musiker:innen und Komponist:innen jetzt aus Konzertprogrammen gestrichen werden, kann ich nachvollziehen. Aber es tut mir weh, dass die ganze russische Kultur mit diesem Krieg assoziiert wird.

Fürs Benefiz-Konzert für den Frieden, das ich moderieren werde (siehe Kasten), wurden Werke von russischen und ukrainischen Komponist:innen zusammengestellt, die unter dem Sowjetregime politischen Repressionen ausgesetzt waren oder aus ihrer Heimat fliehen mussten. Ich habe wenig Geld – dies ist mein Beitrag für den Frieden.
 

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Musik in der Not – ein Benefizkonzert für den Frieden
Freitag, 15. April, 19.00, Aula im PROGR, Bern
Ein moderiertes Konzert mit Werken russischer und ukrainischer Komponist:innen, die politischen Repressionen ausgesetzt waren oder fliehen mussten.
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