Theres Spirig-Huber/Karl Graf: Ich werde, also bin ich. Biografiearbeit – spirituell. Hinführung und Übungen. Ignatianische Impulse, echter 2016, 96 Seiten, Fr. 11.90
Ich werde also bin ich
Eine neue Publikation zur Biographiearbeit - ein Gespräch mit der Autorin und dem Autor
Das Arbeiten mit der eigenen Lebensgeschichte, die sogenannte Biografiearbeit, hilft Menschen in Zeiten der Krise oder der Übergänge, ihr Leben zu ordnen und neue Perspektiven zu finden. Es gibt aber kaum Literatur, die diese Arbeit mit der jüdisch-christlichen Spiritualität verbindet.
Theres Spirig-Huber und Karl Graf leiten seit vielen Jahren Seminare zumThema Biografiearbeit und Spiritualität. Jetzt haben sie ihre Erfahrungen und Überlegungen in einem Buch zusammengefasst.
Tatsächlich – biblische Erzählungen bis hin zu den Lebensberichten vieler Mystikerinnen und Mystiker sind voller biografischer Elemente, die gerade die Umbruchphasen im Leben ansprechen. ZumBeispiel der Auszug aus Ägypten und die wüstenwanderung der Israeliten, welche die Phase der Pensionierung unter die Stichworte neue Perspektiven, Abschied und Aufbruch stellen kann, oder die Erzählung aus dem Johannesevangelium über den Kranken am Teich von Betesda, die bei Glaubenskrisen oder Sinnsuche weiterhelfen kann, wie die persönliche Erfahrung der Autorin Spirig-Huber im Gespräch deutlich macht. Das Buch «Ich werde, also bin ich» zeigt im ersten Teil, wie Biografie und Spiritualität verbunden sind, und bietet im zweiten Teil eine Vielfalt von Anregungen und Metho Methoden für die praktische Umsetzung.
Das «pfarrblatt » lud die Theologin und den Theologen zum Gespräch.
«pfarrblatt»: Theres Spirig, Karl Graf, beim Lesen des Buches wird deutlich, dass Ihre eigenen Erfahrungen mit biografischer Arbeit eingeflossen sind. Konkret aber sprechen Sie ihre eigenen Geschichten nicht an, warum?
Theres Spirig-Huber: Lesende sollen sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen. wir fanden, dass dazu unsere eigenen nicht hilfreich wären. wir wollen verhindern, dass die individuellen Erfahrungen in unseren gespiegelt werden.
Trotzdem nimmt mich als Leser wunder, was die Autoren in ihrer persönlichen Aufarbeitung erlebt haben. Gibt es dazu Beispiele?
Karl Graf: Aber ja. Ich bin in einem katholischen Dorf aufgewachsen, Glaube und Kirche orientierten sich am Gegebenen, an Regeln, nicht an persönlichen Erfahrungen. Das machte mir früh Mühe. Ich wurde durch die 1968er-Jahre beeinflusst, habe den Militärdienst verweigert und fand im Dorf nur Ablehnung. Als ich dann in mein Theologiestudium nach Luzern aufbrach, begegneten mir in der Kirche Menschen, die meinen Schritt gut fanden und unterstützten. Das hat mich auf eine neue Art auf die Traditionen der Kirche hören lassen.
Das Dogmatische, Gegebene machte meiner Individualität, meiner Autonomie, der Befreiung Platz. Das wurde mir aber erst später richtig bewusst, als ich in meiner Biografiearbeit in Exerzitien diesen Erlebnissen wieder begegnete. Auch mein Umgang mit den Heiligen und Mystikern begann sich in dieser Arbeit zu entwickeln.
Was hat sich konkret verändert?
Karl Graf: Ich hatte oft in Kirchen das Gefühl, ich müsse den goldglänzenden auf ihre Sockel entrückten Heiligenfiguren den Lack abkratzen, unter und hinter den Glanz schauen, was da wirklich lebt. Ich begriff später, dass dieser Impuls nicht nur niederreissen wollte, sondern auch eine neue Sicht auf den Glauben freimachte. Es ging nicht um Zerstörung, sondern um Befreiung auf das Wesentliche hin.
Theres Spirig-Huber: Ein Befreiungsschritt, den ich hier erzählen kann, hängt mit dem Gleichnis der Heilung des Gelähmten am Teich Betesda zusammen und macht das Zusammenspiel von spirituellen, biblischen Texten mit der eigenen Geschichte deutlich. Das ist immer auch ein sehr persönlicher Prozess. Ich rang lange aus verschiedenen Gründen mit meiner Lebensgeschichte und mit meinem Glauben.
In den Grossen Exerzitien nach Ignatius geht es im ersten Schritt um Biografiearbeit. Dazu gab mir mein geistlicher Begleiter das Gleichnis des Gelähmten am Teich Betesda mit. Mein erster Impuls damals war, ja klar, eine Heilungsgeschichte, da muss der Gelähmte entweder sagen, was er braucht, oder er muss einfach glauben, dass er geheilt werde. Beides fiel mir damals schwer, zu formulieren, was ich denn wirklich brauchte und einfach so zu glauben, war für mich in der damaligen Situation sehr schwierig. Dann aber wurde das Gleichnis für mich eine Offenbarung.
Wie das?
Theres Spirig-Huber: Der Gelähmte am Teich muss beides nicht tun, er muss nicht sagen, was er jetzt braucht und er muss auch keinen Glauben bekennen. Jesus kommt vorbei und es steht in der Bibel: Jesus «erkannte, dass er schon lange krank war». Das hebräische Wort für «Erkennen» bedeutet, jemanden im Innersten zu begreifen, zu lieben. In dieser Bedeutung gelesen heisst das, dass Jesus im Vorbeigehen den Menschen zutiefst liebgewann, ihn in seinem Leiden erkannte. Er fragt ihn: «Willst du gesund werden?» Der Kranke erklärt darauf Jesus, dass er seit 38 Jahren keine Chance habe, rechtzeitig in den nahen Teich zu kommen, der als heilkräftig galt, weil ihn niemand hintrage. Er erklärt also einfach, was Sache ist.
Das hat mich dazu gebracht, auch in meiner Lebensgeschichte, in der Biografiearbeit, das zu tun, zu benennen, was in meinem Leben Sache ist. Und dann sagte Jesus einfach: «Steh auf, nimm Deine Bahre und geh.» Und der Mann stand auf und ging. was machte das möglich? Dieses Erkanntwerden, Geliebtwerden krempelte den Mann um. Es richtete ihn buchstäblich auf. Er musste keine Forderungen erfüllen, er musste gar nichts. Die Geschichte wurde zu meiner Geschichte: Gott nahm nach all meinen Zweifeln und persönlichen Kämpfen das Zepter in die Hand und sagte zu mir, steh auf und geh. Das war ein Wendepunkt in meinen Leben.
Nicht jede ist Theologin, nicht jeder hat einen Zugang zu den Begriffen Jesus, Gott, oder Liebe Gottes. Wie kann man diese Begriffe, die kirchlich besetzt sind, anders umschreiben, dass sie auch von Kirchenkritischen verstanden werden?
Karl Graf: Mein Gottesbild hat sich verändert vom allmächtigen, allgegenwärtigen Gott, geprägt von meiner dörflichen Kindheit im katholischen Milieu, hin zum biblischen Gott, der unter uns sein Zelt aufstellt, mit uns mitgeht, einem Gott, der durch den Schmerz hindurch mit mir auf Befreiung hin unterwegs ist. Dabei nimmt Gott meine Autonomie ernst. Diese ist allerdings nie das Ganze. Seit der Schwangerschaft meiner Mutter lebe ich in Beziehungen. In beidem ist für mich Gott da, auch wenn meine Autonomie gefährdet ist und tragende Beziehung in Brüche gehen.
Und in allem gilt, weil man Gott nicht festmachen kann, dass es auch ganz anders sein kann. Diese Möglichkeit, dieses Mehr in Allem, dass es noch anders sein kann, hat mit Gott zu tun. Und der Theologe Bonhoeffer sagte: «Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.»
Theres Spirig-Huber: Spiritualität ist Verbundensein mit dem, was mich und die welt übersteigt. Gott ist nicht etwas ausserhalb von mir. Gott ist für mich die «wirklichkeit», das Leben, die Liebe selber, im Unterschied zur «Realität». Diese ist durch Zeit und Raum begrenzt, relativ und veränderbar. wirklichkeit ist das, was in allem und durch alles wirkt. Dieser kann ich Gott sagen. Gott ist ein Geschehen, Gott wirkt und ist nie ein Etwas.
Karl Graf: Wichtig ist mir auch, dass es keine Ist-Aussage über Gott gibt, wie das Zitat von Bonhoeffer zeigt, keinen Gottesbeweis. Andererseits sollen die kirchlich besetzten Begriffe auch kein Tabu sein. Sie können helfen, die Ahnung, die wir von dem angesprochenen Mehr im Leben haben, existentiell zu benennen und neu zu verstehen. Das gelingt auch kirchenkritischen Menschen, die unsere Kurse besuchen. Ich denke, dass wir nicht dozieren oder nur Definitionen liefern im Buch. wir laden dazu ein, die Begriffe im eigenen Leben zu spiegeln. Und diese dann mit Erfahrungen von anderen Menschen, von Erzählungen und Gleichnissen zu verknüpfen. Dazu wollen wir anregen.
Dazu will wohl vor allem der zweite, praktische Teil des Buches verhelfen.
Theres Spirig-Huber: Genau, deshalb haben wir im zweiten Teil des Buches zahlreiche Anleitungen und Methoden beschrieben, die den Interessierten helfen sollen, die eigene Geschichte neu zu entdecken, die eigene Sprache, sich selbst mehr zu finden. Jeder Mensch, auch solche mit ganz schlimmen Lebenserfahrungen, ist die bisherigen Schritte im Leben gegangen, Schritt für Schritt.
Mit ihnen möchten wir auf Spurensuche gehen nach dem Geheimnis ihres Lebens, wie die tiefste wirklichkeit in der Realität ihres Lebens präsent war und sie in ihre ganz einmalige Zukunft ruft.
Interview: Jürg Meienberg
Biografiearbeit spirituell
Vernissage zum neuen Buch von Theres Spirig-Huber und Karl Graf: Donnerstag, 23. Juni, 19.15, aki, Alpeneggstrasse 5, Bern. Mit der Autorin, dem Autor und Angelo Lottaz, Theologe/Psychotherapeut, Bern. Musik Albin Brun, Schwyzerörgeli. Anschliessend Apéro.
Eintritt frei.