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Illusionen

19.09.2024

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Überall.

Allerdings gibt es darunter so manche, die überlebenswichtig sind.
Wer könnte schon immerzu mit der Gewissheit leben, sich von einem nahen Menschen jederzeit plötzlich und für immer trennen zu müssen? Zeigt nicht jeder neue Tag, dass es Sinn macht, mit dem Dasein dieses Menschen auch morgen und übermorgen zu rechnen? Im Guten wie im Schlechten?

Stirbt ein Mensch, so zerbricht diese Illusion. Es ist, als ob ein Alptraum wahr wird, als ob ein Film plötzlich reisst, als ob alles stehen bleibt. Die brutale Echtheit des Geschehens wirkt unwahr.

Auch das Behandlungsteam – Pflegende, Therapeut:innen, Ärztinnen und Ärzte – ist fassungslos, traurig und enttäuscht, wenn es Patient:innen gehen lassen muss. Obschon Sterben zum Beruf und zum Menschsein schlechthin dazugehört.

Und erst die Angehörigen.

Wieso jetzt? Wieso so plötzlich? Wieso so früh? Ist wirklich nichts mehr zu machen? Die Missstimmungen von gestern – gibt es keine Möglichkeit mehr, diese aufzulösen? Und das gemeinsame Lachen – wie kann es unwiederbringlich und für immer verstummt sein?

Auch jetzt.

Die Sekunden vergehen. Sie verdichten sich zu Minuten. Und zu Stunden. Die Endlichkeit rückt näher und näher, unerbittlich.

Was für eine himmeltraurige Situation.

Ich lege meine Edelsteinherzen auf den Tisch, die ich immer bei mir trage. Die Angehörigen lassen sich darauf ein und wählen je zwei aus. Eines davon geben sie in ein Tüllsäckchen, das eine der Töchter der sterbenden Mutter in die Hand legt. Das andere behalten alle für sich.

Die einen bleiben bis zum letzten Atemzug und darüber hinaus. Die anderen verabschieden sich vorher, auf ihre je eigene Weise. Alle nehmen ein Edelsteinherz mit nach Hause.

Es ist die Liebe, die es vermag, uns über den Tod hinaus miteinander zu verbinden. Eine ihrer Erscheinungsformen ist die Erinnerung. Und die braucht oft etwas Greifbares, um das sie sich ranken kann.

Zum Beispiel um ein Edelsteinherz. Auch eine Illusion?

Wer weiss.

Nadja Zereik, Seelsorgerin im Inselspital

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