«Man glaubte lange, dass Beweise, wie sie für die Mathematik produziert werden, auch auf Gott angewendet werden können.» Michael Hampe. Foto: keystone
«Immanuel Kant hielt nichts von Theologie»
Ein Gespräch mit Philosophie-Professor Michael Hampe
Vor 300 Jahren wurde Immanuel Kant geboren, einer der grössten Philosophen der Aufklärung. Tiefgläubig «hielt Kant nichts von rationaler Theologie». In der «Kritik der reinen Vernunft» widerlegte der Philosoph den ontologischen Gottesbeweis. Warum Kants «sapere aude!» noch heute relevant ist und trotzdem keine Kampfansage an den Glauben war, erklärt Philosophie-Professor Michael Hampe*.
von Annalena Müller
«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.» Was bedeutet dieser berühmteste Satz von Immanuel Kant eigentlich?
Michael Hampe: Um zu Erkenntnis zu gelangen, reicht es nicht, nach Wahrheiten zu streben, sondern es gehören Fleiss und Mut dazu. Fleiss, weil es lange dauert und anstrengend ist, etwas herauszufinden; Mut, weil das, was man herausfindet, einem eventuell nicht passt. Wenn Leute faul und ängstlich sind, verlassen sie sich im Denken lieber auf andere. Dieses Sich-Auf-Andere-Verlassen ist der Weg in die Unmündigkeit, weil man sich dann von den Erkenntnissen anderer Leute abhängig macht. Und die Schuld an dieser Unmündigkeit kommt daher, dass man die eigene Faulheit oder Ängstlichkeit nicht überwunden hat, obwohl man sie hätte überwinden können.
«Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!», so geht der Satz ja weiter. Kann man diesen Aufruf auch als Kampfansage gegen die Deutungshoheit der Kirchen verstehen?
Hampe: Ich weiss nicht, ob Immanuel Kant Kampfansagen produziert hat. Die Schrift «Was ist Aufklärung» geht ja so weiter, dass sie die Rollen, die Personen von Amts wegen haben, dem gegenüberstellt, was diese Personen ausserhalb ihrer Ämter öffentlich sagen. Zu den wichtigsten Ämtern in Kants Zeit gehörte natürlich auch das Pfarramt. Aber auch der Offizier oder der Schullehrer sind von Amts wegen zur Loyalität gegenüber ihrem «Dienstherren», damals meist einem Fürsten verpflichtet. Als Amtsperson darf man nicht gegen König oder Kirche wettern. Dem stimmt Kant zu.
Aber er hielt auch fest, dass die Rolle der Amtsperson endet, wenn die Person aus dem Amtsgeschäft heraus und in die Öffentlichkeit tritt. Kant weist daraufhin, dass es so etwas wie eine öffentliche Person gibt, die eben keine Amtsperson ist. Und in dieser Rolle hat man die Erlaubnis, sogar die Pflicht, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und die Loyalität gegenüber dem Dienstherrn zu suspendieren…
… Nach diesem Verständnis dürfte der Professor Michael Hampe die ETH in den Medien nicht kritisieren, die Privatperson Hampe hingegen schon…
Hampe: Genau. Und diese Differenzierung und der Aufruf zum individuellen Mut, war etwas, das zu Kants Zeiten eben Mut selbst verlangte. Im 18. Jahrhundert gab es noch kein Konzept einer Öffentlichkeit, in der die freie Meinungsäusserung erlaubt war. Weltliche und auch Kirchenfürsten regten sich darüber auf, wenn etwas, was ihnen nicht passte, von jemandem, den sie angestellt hatten in seiner privaten Zeit öffentlich gesagt wurde. Da konnte man dann Ärger bekommen. Um das auszuhalten, bedurfte es damals wie heute Mut.
Immanuel Kants «Kritik der reinen Vernunft» gilt als eine seiner wichtigsten Schriften. Kurz zusammengefasst: Worum geht’s?
Hampe: (lacht) Ganz kurz gesagt, geht es um die Unmöglichkeit, Argumentationsfiguren, die in der Mathematik funktionieren, auf nicht-mathematische Gegenstände anzuwenden…
…etwas länger darf es schon sein…
Hampe: Die sogenannte «Metaphysik» glaubte, dass Beweise, die in der Mathematik zu Einsichten führen, auch bei der Untersuchung von Themen wie «Gott», «die menschliche Seele», «die Welt im Ganzen» möglich sein müssten.
Können Sie das etwas anschaulicher erklären?
Hampe: Die Mathematik handelt von Gegenständen wie Zahlen. Die sind als abstrakte Gegenstände aber nicht sinnlich erfahrbar. Wir stolpern im Wohnzimmer nicht über die Zahl drei oder über π, auch wenn wir ein oder zwei Äpfel in der kreisrunden Obstschale liegen haben. Wir gehen davon aus, dass π irgendwie existiert, weil wir die Zahl mathematisch herleiten und bei allen möglichen Berechnungen, vor allem im Zusammenhang mit Kreisen, erfolgreich anwenden können.
In Theologie und Philosophie gab es lange die Idee, dass solche Herleitungen und Beweise über Eigenschaften von nicht- sinnlich Erfahrbarem auch für nicht-mathematische Objekte möglich sein müssten.
Gott zum Beispiel?
Hampe: Genau. Wenn Gott jemand ist, von dem man keine Sinneserfahrungen haben kann, dann stellt sich die Frage: Können Beweise, wie sie für die Mathematik produziert werden, auch auf Gott angewendet werden. Kann man etwa die Existenz Gottes oder seine Allmacht beweisen? Das hat Kant verneint.
Damit widersprach Kant über 500 Jahre rationaler Theologie. Die katholische Kirche will spätestens seit Peter Abelards «sic et non» (1122) Gott logisch belegen…
Hampe: … der «späte» Kant hielt nichts mehr von rationaler Theologie, stimmt. In der «Kritik der reinen Vernunft» zeigt er, dass sie ein unmögliches Projekt ist. Aussagen über Gott, die Seele und die Welt als Ganzes zu produzieren, die einerseits universal gültig, andererseits nicht auf bestimmte sinnliche Erfahrung beschränkt sein sollen, kann nach Kants Theorie nicht funktionieren.
Wenn man Gott mathematisch nicht beweisen kann, heisst das, man kann gar nichts über Gott wissen?
Hampe: Kant selbst war ein religiöser Mensch. Er hat gemeint, dass er das Wissen begrenzt hat, um dem Glauben Platz zu machen. Er hätte wohl lediglich gesagt, dass wir keine intersubjektiv begründbaren Aussagen über Gott machen können, es keine Wissenschaft über ihn gibt. Ob man privatim religiöse Erfahrungen haben kann, die man mit dem Wort «Gott» in Zusammenhang bringt, ja sogar, ob man ihn und die Unsterblichkeit im Rahmen einer praktischen Philosophie «postulieren» soll, wie Kant sich ausdrückt, das steht auf einem anderen Blatt.
Können Sie das erklären?
Hampe: Kant schliesst nicht aus, dass religiöse Erfahrungen und moralische Bedürfnisse gibt, die mit Religion zu tun haben. Er sagt nur, dass eine solche Erfahrung nicht begrifflich kontrollierbar ist. Zum Beispiel, hier (Hampe zeigt auf gerahmte Bilder über seinem Schreibtisch): Wir beide können uns darauf einigen, dass diese Rahmen rot sind.
Wenn ich Ihnen aber sage, dass ich gestern Abend eine Erleuchtung hatte, dann können Sie das glauben oder nicht. Es gibt nichts in diesem Raum, auf das Sie oder ich physisch verweisen können, das als Begründung taugen würde, dass ich eine Erleuchtung hatte. Die Aussage, die Bilderrahmen sind rot, kann ich belegen. Die Aussage, ich hatte eine Erleuchtung, nicht.
Aber das heisst nicht, dass es keinen Gott gibt?
Hampe: Nein. Es heisst nur, dass man keinen Beweis für Gottes Existenz erbringen kann. Aber die Idee Gottes wollte Kant nicht, wie etwa später Nietzsche, aus der Welt schaffen. Das war nicht sein Anliegen.
Immanuel Kant hat eine tief religiöse, nämlich pietistische, Erziehung erfahren. Inwiefern hat das seine Moralvorstellung geprägt?
Hampe: Moral spielt bei Kant eine grosse Rolle. Der Zusammenhang von Moral und Religion ist bei Kant sehr eng. Von Kant stammt ja auch der berühmte kategorische Imperativ. Der Volksmund kannte eine «Vorversion», wenn man es so nennen will, in der «Goldenen Regel»: «Was du nicht willst, das dir man tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.»
Hinter dem kategorischen Imperativ stehen bei Kant auch Überlegungen, was moralisches Handeln eigentlich motiviert. Also, handeln wir moralisch, weil wir nach sozialem Erfolg streben? Oder folgen wir einem Sittengesetz, das wir in uns als «Vernunftwesen» vorfinden?
Was ist Moral schlussendlich?
Hampe: Moral ist nach Kant der Prozess des Vernünftig-Werdens im Praktischen, bei dem man die eigene Emotionalität mit dem, was aus rationalen Gründen gefordert ist, in eine gewisse Übereinstimmung bringt. Wir handeln nach Kant moralisch, wenn wir aus Achtung vor dem Sittengesetz, dem kategorischen Imperativ handeln. Diese Achtung ist ein motivierendes Gefühl. Die Erkenntnis der Struktur des kategorischen Imperativs dagegen das Ergebnis vernünftiger Einsicht.
Kants Geburt jährt sich dieses Jahr zum 300. Mal. Was hat Immanuel Kant uns heute noch zu sagen?
Hampe: Ich glaube, eine ganze Menge. Wer etwas verstehen will, also Erkenntnisansprüche erhebt, der oder die muss auch heute fleissig und mutig sein. Faul und ängstlich zu sein, ist damals wie heute gefährlich, weil andere Leute einen an der Nase herumführen können. «Sapere aude» ist daher bis heute richtig und wichtig. Und vielleicht ist es das im Zeitalter von Fake News sogar besonders.
*Michael Hampe (62) ist Professor für Philosophie an der ETH Zürich. Seine Arbeitsgebiete liegen auf der Philosophie und Geschichte der Erfahrungswissenschaften, Kritische Theorie und Metaphysik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, Techniken der Selbsterkenntnis.