Befreiende Auswege: Leonardo Boff im Oktober 2008 in Bolligen, Bern. Foto: KEYSTONE/Fernand Rausser
Impulse zur Bewahrung des Lebens
Tiefgreifende Gedanken des bekannten Befreiungstheologen Leonardo Boff zum Thema der Fastenopfer-Kampagne «Gemeinsam für eine Welt, in der alle genug zum Leben haben»
«Wir stehen an einem kritischen Punkt der Erdgeschichte, an dem die Menschheit den Weg für ihre Zukunft wählen muss. … Wir haben die Wahl: Entweder bilden wir eine globale Partnerschaft, um für die Erde und füreinander zu sorgen, oder wir riskieren, uns selbst und die Vielfalt des Lebens zugrunde zu richten.»
Diese Aussage steht im Vorwort der Erdcharta, einem von der Unesco mit Beteiligung fast aller Völker verabschiedeten Dokument. Ähnliche Warnungen haben der Ökumenische Rat der Kirchen und Papst Franziskus in der Enzyklika «Laudato Si’ und die Sorge um unser gemeinsames Haus», vorgetragen.
Die Botschaft ist sonnenklar: Wir müssen etwas ändern in unserer Beziehung zu Natur und Erde, in unserer Produktionsweise, unseren Konsumgewohnheiten und letztlich in unserem Bewusstsein und in unseren Herzen. Diesmal gibt es nicht mehr eine Arche Noah, die einige retten kann und die anderen zugrunde gehen lässt. Entweder retten wir uns alle oder wir gehen einer unvorstellbaren sozio-ökologischen Katastrophe entgegen.
Ich möchte einige Punkte unterstreichen, die ich für unsere gemeinsame Zukunft als entscheidend betrachten.
Die Erde als Grossorganismus
Zunächst müssen wir eine andere Sicht von der Erde annehmen und diese nicht als lebloses Objekt anschauen, über das wir nach Gutdünken verfügen können. Der moderne Mensch empfindet sich als «Herr und Besitzer» («maître et possesseur» nach Descartes) der Erde, als über ihr stehend und nicht als Glied der grossen Gemeinschaft des Lebens (Natur).
Das ist eine überholte Auffassung. Für viele Wissenschaftler, Kosmologinnen und Biologen ist die Erde nicht einfach eine tote Bühne, auf der das Leben stattfindet, sondern ein lebendiger Grossorganismus, der ständig Physisches, Chemisches und Ökologisches in einer Weise artikuliert, dass er immer neues Leben hervorruft und reproduziert.
Am 22. April 2009 billigte die Generalversammlung der UNO nach einer langen Diskussion einstimmig den Gedanken, die Erde als Mutter zu bezeichnen. Das ist revolutionär für unsere Sichtweise des Planeten und unser Verhältnis zu ihm. Es ist eine Sache, von der Erde zu sprechen, die – wenn es uns gelegen erscheint – gekauft, verkauft und wirtschaftlich ausgebeutet werden kann.
Es ist eine andere Sache, von der Mutter Erde zu reden, denn die Mutter kann man nicht verkaufen, kaufen oder ausbeuten, sondern vielmehr sollte man sie lieben, ehren und für sie sorgen.
Der Mensch als Teil der Erde
Um diese neue Perspektive von der Erde in unserem Verständnis der Wirklichkeit anzunehmen, müssen wir das noch dominierende Paradigma zu überwinden suchen. Der heutige westliche Mensch betrachtet die Erde nämlich nicht als die Grosse Mutter der Griechen und Römer, die Pachamama der Indigenen aus den Anden oder die Nana des Ostens; auch in der Bibel ist die Verbindung des Menschen zur Erde übrigens eng, stammt doch der Mensch selber aus dieser adamah (Gen 2,7; Jer 18,6). Vielmehr sieht er die Erde als eine Art von Reservoir von Ressourcen und natürlichen Gütern, die er benutzen und anhäufen kann.
Es handelt sich um das Paradigma der Ausbeutung der Natur und der Eroberung von anderen Völkern, das seit dem 17. Jahrhundert herrscht. Die Konsequenzen davon sind die heutige ökologische und zivilisatorische Krisis. Die physikalisch-chemische Grundlage der Reproduktion des Lebens ist gefährdet. Einige Wissenschaftler haben sogar ein neues geologisches Zeitalter eingeführt mit dem Namen Anthropozän, in dem gerade der Mensch als grosse Gefahr für die Zukunft des Lebens auftritt.
Das Zeugnis der Astronauten aus ihren Raumschiffen geht in eine ganz andere Richtung. Zum Beispiel bezeugte Russell Schweickart: «Wenn du die Erde von ausserhalb siehst, dann bemerkst du, dass all das, was für sie wichtig ist – die gesamte Geschichte, die Kunst, die Geburt, der Tod, die Liebe, die Freude, Tränen –, in diesem kleinen weissen und blauen Punkt enthalten ist, den du mit deinem Daumen verdecken kannst. … Das Verhältnis [ist] nicht mehr so, wie es früher gewesen ist. Die Erde erscheint als etwas Lebendiges.» (Siehe Frank White, The Overview Effect, Houghton Mifflin Company, Boston 1987, S. 211).
Isaac Asimov, ein russischer Schriftsteller zu Themen der Kosmologie, benannte 1982 als Vermächtnis der bisherigen Erfahrungen der Raumfahrt die «Einsicht, dass von den Raumschiffen aus gesehen die Erde und die Menschheit eine einzige Entität bilden» (New York Times, 9. Oktober 1982).
Das will heissen, dass wir beide – Erde und Menschheit – ein einziges, komplexes, in sich vielfältiges Wesen sind. Das bedeutet auch, dass der Mensch kein umherirrender Wanderer, kein Passagier ist, der von anderswo herkommt und anderen Welten angehört. Nein, er ist Sohn bzw. Tochter der Erde. Ja mehr noch: Er ist die Portion der Erde, welche in einem sehr komplexen Moment ihrer Evolution angefangen hat zu denken, zu lieben und zu achten. Er/sie ist die denkende, liebende, verehrende Erde. Fritjof Capra drückt dies auf folgende Weise aus: «Nie wieder wird die Überzeugung aus dem menschlichen Bewusstsein verschwinden, dass wir Erde sind, und dass unser Schicksal untrennbar mit dem Schicksal der Erde und des Kosmos, in den sie eingebettet ist, verbunden ist» (Capra/Steindl-Rast 1993, in Boff, The Tao of Liberation, New York 2009, S. 207).
Kollektive Verantwortung
Dem herrschenden Paradigma der Eroberung müssen wir das Paradigma der sorgfältigen Achtsamkeit oder der achtsamen Sorge gegenüberstellen und dieses weiterentwickeln, um die Mutter Erde zu schützen und die Zukunft unserer Zivilisation zu gewährleisten. Mit der Achtsamkeit gehen der Respekt gegenüber den Rhythmen der Natur und die kollektive Verantwortung allem Lebendigen und allen Wesen gegenüber einher.
Das beinhaltet auch ein Umdenken bezüglich der Verselbständigung der Wirtschaft gegenüber Regeln und Strukturen des sozialen Lebens, wie sie schon 1944 der bekannte Wirtschaftler und Denker Karl Polanyi in seinem Buch «Die grosse Transformation» angeprangert hat.
Von einer Marktwirtschaft sind wir zu einer Marktgesellschaft geworden. Alles wird eine Ware, von den einfachen Dingen des Hauses bis zu den menschlichen Organen, die auf den Märkten von Kairo oder Bombay verkauft und gekauft werden. Mit allem kann man Geld machen. Das ist die grösste und die schamloseste Korruption, die heute in Brasilien und anderswo grassiert.
Das Herz wachrütteln
Es gibt einen anderen entscheidenden Punkt, ohne den alles bisher Gesagte kaum fruchtbar werden kann. Wir müssen unbedingt die Dimension des Herzens wiedergewinnen oder die fühlende Intelligenz suchen, um effektiv eine neue, liebevolle Beziehung zur Erde und zu all ihren Bewohnern herzustellen.
Zweifellos erfordert die globale ökologische Krise technische Lösungen, die eine eventuelle Katastrophe verhindern können. Die Technik kann aber nicht alles bewirken, wie dies auch Papst Franziskus so sehr in seiner Enzyklika Laudato Si’ betont hat. Wir müssen auf ethische Kriterien zurückgreifen, denen auch die wissenschaftliche Praxis selbst zu unterwerfen ist: Es tut dringend not, das Herz wachzurütteln. Das Herz ist es nämlich, das uns zum Handeln motiviert und Mitleid, Solidarität und Liebe zur Natur hervorruft.
Die Dimension des Herzens wurde im Laufe der Moderne vernachlässigt. Alles, was dem Bereich der Emotionen, der Affekte, des Empfindens – mit einem Wort: dem Pathos – entstammt, so meinte man, würde den analytischen «objektiven» Blick auf das Objekt trüben. Diese Dimensionen gerieten unter Verdacht und wurden zurückgedrängt. Später hat dieselbe Wissenschaft bemerkt, dass in jeder Beziehung Objekt und Subjekt, emotionale und affektive Momente mit im Spiel sind. Zusätzlich hat sie festgestellt, dass die Grundstruktur des Menschen nicht nur Vernunft, sondern Gefühl, Sensibilität und Pathos ist.
Man muss bedenken, dass wir Menschen nicht einfach rationale, vernunftbegabte Lebewesen, sondern vernunftbegabte Säugetiere sind. Vor circa 200 Millionen Jahren traten die Säugetiere auf den Plan, und innerhalb des evolutiven Prozesses brachte dieser das limbische System des Gehirns hervor. Dieses ist verantwortlich für das Gefühl, die Fürsorge, die liebevolle Zuwendung und die Zärtlichkeit der Eltern zu den Jungen. Erst in den letzten fünf oder sechs Millionen Jahren entstand die Hirnrinde, und seit hunderttausend Jahren gibt es das Gehirn in der heutigen Form und mit diesem das abstrakte Denken, die Begrifflichkeiten und die rationale Sprache.
Es ist heute eine grosse Herausforderung, dem ältesten Teil in uns – dem Gefühl und dem Empfinden, was am besten mit dem Ausdruck «Herz» beschrieben wird – wieder einen entscheidenden Stellenwert einzuräumen. Damit reduzieren wir die Vernunft nicht, sondern wir integrieren sie als etwas, das unverzichtbar ist für die Rangordnung der Gefühle, ohne dass sie diese ersetzt.
Zugleich sollten wir den Schrei der Erde und den Schrei der Armen hören, unterstreicht Papst Franziskus. Wer kein Ohr für den Schrei der Armen und der Erde hat, hat nichts vor Gott vorzutragen und kann auch nicht im Namen Gottes etwas sagen. Wenn wir heute nicht lernen, die Erde als lebendiges Wesen zu empfinden, sie so zu lieben, wie wir unsere Mutter lieben, und nicht so für sie sorgen, wie wir uns um unsere Kinder kümmern, dann wird es schwer sein, sie als Lebensträgerin zu retten.
Das gilt besonders für die Wirtschaft. Ihr Sinn ist nicht auf grenzenlose Akkumulation gerichtet wie in der kapitalistischen Ordnung, sondern auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, angefangen bei denjenigen Menschen, die am meisten verletzt sind. Das kann nur erreicht werden, wenn die herzvolle Solidarität stärker ist als die reine Konkurrenz.
Eine mit Empfindsamkeit, Gewissen und ethischen Grundsätzen betriebene Wissenschaft kann befreiende Auswege aus unserer zivilisatorischen Krise finden. Aber nicht ohne Herz. Dies ist die notwendige Voraussetzung, damit unser Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung wirklich effektiv werden kann.
Leonardo Boff
Die Details zur neuen «Ökumenischen Kampagne» zur Fastenzeit finden Sie hier.
Leonardo Boff, Theologe, Buchautor, Kämpfer für die Armen, Sozialist und ehemaliger Franziskaner, wurde 1938 in Brasilien als Sohn italienischer Emigranten geboren. Durch seine Ansichten – unter anderem, dass der christliche Glaube eine Hilfe zur politischen Selbsthilfe ist – geriet er mit dem Vatikan zusehends in Konflikt, bis er schliesslich aus dem Franziskanerorden austrat. Im Kampf gegen Armut und Hunger unterstützt und leitet er Projekte für Obdachlose, Strassenkinder und Landlose. Dabei weist er immer wieder darauf hin, die Armen müssten begreifen, dass ihre Armut nicht naturgegeben sei. Der Ökotheologe ist nach wie vor ein engagiertes Mitglied der christlichen Basisgemeinde in Brasilien.
Auf Deutsch sind von Leonardo Boff erschienen:
- Leonardo Boff, Die Erde ist uns anvertraut: eine ökologische Spiritualität, Kevelaer 2010.
- Leonardo Boff, Zukunft für Mutter Erde. Warum wir als Krone der Schöpfung abdanken müssen, München 2012.
- Leonardo Boff, Achtsamkeit: von der Notwendigkeit, unsere Haltung zu ändern, München 2013.
- Leonardo Boff/Mark Hathaway, Befreite Schöpfung – Kosmologie – Ökologie – Spiritualität, Kevelaer 2016.
- Leonardo Boff, Herzenssache: Warum uns die Vernunft allein nicht weiterbringt, Kevelaer 2016. Leonardo Boff, Überlebenswichtig: Warum wir einen Kurswechsel echter Nachhaltigkeit brauchen, Matthias Grünewald 2016.