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Invictus
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Die Frau ist sehr krank, schwach und ausgemergelt. Doch im Geist ist sie hellwach. Sie hat nur noch wenige Wochen zu leben. Aber, so sagt sie, das sei nicht das Wichtigste. Wichtiger ist, dass sie geliebt hat und geliebt worden ist.
Sie möchte zu Hause sterben. Als ich sie frage: «Wie lange müssen Sie noch im Spital bleiben?», antwortet sie:
«Bis ich wieder tanzen kann.»
Zuerst bin ich verwirrt: Diese Frau wird doch nie mehr in ihrem Leben tanzen können! Sie hat doch schon Mühe, selbstständig ein paar Schritte zu gehen!
Dann dämmert es mir: Sie macht einen Scherz. Mit mir, aber vor allem mit ihrem Schicksal. Und dadurch gewinnt sie eine gewisse Souveränität über ihre Erkrankung, die ihr so viele Einschränkungen auferlegt. Sie behält die Oberhand über ihr Leben. Sie ist, wie es in dem Gedicht «Invictus» von W. E. Henley heisst, Meisterin über ihr Schicksal und Kapitänin ihrer Seele.
Dieses Gedicht scheint übrigens für Nelson Mandela ein wichtiger Text gewesen zu sein. Offenbar hat es ihm geholfen, die Jahre, die er auf der Gefängnisinsel Robben Island eingesperrt war, zu überleben, ohne zu zerbrechen.
Und wer weiss: Vielleicht ist die sterbenskranke Patientin, die sagte, dass sie so lange hospitalisiert bleibe, bis sie wieder tanzen könne, inzwischen schon zur Auferstehung hindurch getanzt.
Filmtipp: Invictus – Unbezwungen (Regie: Clint Eastwood, 2009,
mit Morgan Freeman und Matt Damon)
Hubert Kössler, Seelsorger im Inselspital