Stefan Junger leitet die Schweizer Armeeseelsorge. Foto: Pia Neuenschwander
«Ist die Armeeseelsorge nahe bei den Menschen, ist sie auch nahe bei Gott»
Ein Gespräch mit Stefan Junger, Leiter der Armeeseelsorge.
Die Schweizer Gesellschaft spiegelt sich auch in der Armee wider. Am 18. Januar 2021 hat die Winter-Rekrutenschule begonnen. Egal welcher Religion oder Weltanschauung, die Armeeseelsorge steht allen Rekruten bzw. Militärangehörigen offen. Ein Interview mit Stefan Junger, Chef der Armeeseelsorge und damit oberster Armeeseelsorger.
Interview: Anouk Hiedl
«pfarrblatt»: Was beschäftigt Rekruten? Welche seelsorgerlichen Anliegen haben Offiziere?
Stefan Junger: Das Leben schreibt viele Worte. So bunt wie das Leben, so bunt sind die Fragen und Anliegen. Einen Rekruten, der gerade zum ersten Mal für längere Zeit von zu Hause weg ist, beschäftigen andere Dinge als einen Offizier, der zum Beispiel eine Kommandantenfunktion in einem grossen Verband ausübt. Wesentlich für Armeeseelsorgende ist, dass sie, egal was das Anliegen auch sein mag, ein glaubhaft offenes Ohr zur Verfügung stellen können.
In welchen Situationen werden Armeeseelsorgende gerufen?
Wenn jemand explizit nach einem persönlichen Seelsorgegespräch verlangt, aber auch für Aussprachen mit der Truppe und besinnliche Beiträge im Truppenalltag. Daneben kommen Armeeseelsorgende auch einfach so ins Feld, machen Truppenbesuche und zeigen so ihre Solidarität mit den Armeeangehörigen, indem sie das Leben mit ihnen teilen.
Armeeseelsorge ist Spezialseelsorge. Was zeichnet Seelsorgende dafür aus?
Die Armee unterscheidet nicht nach religiöser, kirchlicher, konfessioneller oder weltanschaulicher Ausrichtung. Die Armeeseelsorge ist daher verpflichtet, ihre Tätigkeiten ohne Unterschied zugunsten aller Armeeangehörigen auszurichten. In erster Linie definieren die Ratsuchenden ihren Weg und ihr Ziel, die Armeeseelsorgenden unterstützen sie dabei in vertraulichen Gesprächen, die unter der Schweigepflicht stehen.
Ich erwarte von meinen Leuten, dass sie ihr Gegenüber in deren Menschsein ganzheitlich wahrnehmen und sie dort abholen, wo sie sich gerade befinden. Sie sollen ihnen ermutigend und stärkend in ihren Herausforderungen beistehen und sie vorurteilsfrei und vorbehaltlos annehmen. Auf dem Hintergrund ihres eigenen Glaubens und ihrer eigenen konfessionellen Tradition begegnen die Seelsorgenden den Überzeugungen der Armeeangehörigen in ökumenischer und interreligiöser Offenheit.
Sie müssen ihre eigene Identität und Überzeugung weder verstecken noch verleugnen. Als Mitglied der Schweizer Armee und als Vertreter der Armeeseelsorge stellen sie diese aber dennoch ein Stück weit zurück. Ihre Aufgabe ist es, die ratsuchenden Militärangehörigen konstruktiv zur Selbstreflexion anzuregen und deren eigene religiöse und weltanschauliche Ressourcen zu aktivieren. Als Träger der Uniform verhalten sich Armeeseelsorgende dabei der Armee gegenüber loyal.
Die «Prinzipien der Armeeseelsorge» von 2020 halten fest, dass diese «menschenorientiert und ergebnisoffen» sei. Sie erwähnen zudem die Loyalität zur Armee. Was steht nun an erster Stelle – die individuelle Seelsorge oder eine funktionierende Miliz?
Ganz klar ist es der Mensch, der in der Armee seinen Dienst leistet. Das Militärgesetz, Artikel 31, gibt ihm unter anderem das Recht auf seelsorgliche Betreuung und nimmt die Eidgenossenschaft in die Pflicht, diesen Dienst auch zur Verfügung zu stellen.
In welchem Verhältnis stehen in der Armeeseelsorge die Konfessionen und Religionen?
Wir haben aktuell etwas mehr reformierte als katholische Seelsorgende. Einige wenige sind christkatholisch und eine Handvoll seit kurzem aus dem Kreis der Freikirchen. Der Armee ist gelebte Diversität auch in der Armeeseelsorge wichtig. Aktuell gibt es noch keine Armeeseelsorgenden, die einen nicht-christlichen Hintergrund haben. Aber das wird wohl eine Frage der Zeit sein. Die Armee hat hierfür die Grundlagen geschaffen, ergebnisoffene Gespräche mit entsprechenden Verbänden laufen. Schon die Gespräche an sich sind wertvoll.
Kommt es auch zu Seelsorgegesprächen mit Atheisten?
Niemand, der ein Gespräch wünscht wird gefragt, wo er oder sie verwurzelt ist. Wir stehen allen zur Verfügung, die dies wünschen, egal wer es auch sei.
Die Armee umfasst ca. 1% Frauen. Wie viele davon sind in der Armeeseelsorge?
Ich freue mich sehr, dass wir in der Armeeseelsorge immer mehr Frauen haben. Derzeit beschäftigen wir rund 170 Armeeseelsorgende, davon aktuell sechzehn Frauen. Ihre Arbeit unterscheidet sich nicht von jener ihrer Kameraden. Ich glaube, ein guter Mix von Frauen und Männern ist gewinnbringend für die ganze Armee. Unter dem Motto «Sicherheit ist auch weiblich» will sie hier auch in Zukunft einen weiteren Effort leisten.
Wie sieht es mit dem Nachwuchs in der Armeeseelsorge aus?
Der Dienst in der Armeeseelsorge ist freiwillig. Das ist gut und richtig so. Gleichzeitig bedeutet dies, dass wir mit hohem Engagement Leute davon überzeugen müssen, dass sich der Einsatz in diesem Feld lohnt. Ich selbst habe der Armeeseelsorge viel zu verdanken. Mit diesem inneren Feuer hoffe ich, dass es uns gelingt, alle zwei Jahre um die 40 Menschen zu motivieren, die Armeeseelsorge zu verstärken. Die Anwärter*innen müssen einer Kirche oder religiösen Gemeinschaft angehören, die mit der Armeeseelsorge in Partnerschaft steht.
Sie müssen die Prinzipien und die Arbeitsweise der Armeeseelsorge akzeptieren und bereit sein, sich entsprechend zu engagieren. Sie sind weiter seelsorglich, theologisch, kommunikativ und rituell sattelfest und verfügen auch über Selbst- und Sozialkompetenz. Zudem bringen sie bereits militärische Erfahrung mit oder sind bereit, sich diese anzueignen. Die Armeeseelsorge prüft ihre Eignung in einem Assessment und während einer dreiwöchigen Ausbildung in verschiedener Hinsicht, dann werden sie bei der Truppe eingesetzt.
Was sind Ihre Aufgaben als Chef der Armeeseelsorge?
Das Spannendste ist, dass es eine gesamtschweizerische Aufgabe ist und ich darum mit allen Regionen unseres Landes zu tun habe. Meine Pflichten umfassen nebst der Verantwortung für die Profikomponente der Armeeseelsorge, dass ich die seelsorgliche Begleitung und Unterstützung sicherstelle. Dazu erlasse ich Kriterien zur Gewinnung von neuen Angehörigen unseres Dienstzweigs und überprüfe die Eignung Interessierter. Ich lege Vorgaben und Einsätze für die Armeeseelsorge fest, kümmere mich um deren Aus- und Weiterbildung und schaue, dass auch die Notfallseelsorge der Armee gut läuft. Ich stelle sicher, dass die Truppe im Einsatz seelsorglich betreut wird.
Ich stehe Red’ und Antwort in Kaderlehrgängen und bei allgemeinen Fragen, wie sich Glauben und Militär vereinbaren lassen. Zudem erarbeite ich entsprechend der Anliegen der Armee Kriterien für Partnerschaften mit Kirchen und religiösen Gemeinschaften, kümmere mich um die Vernetzung mit seelsorglichen Ausbildungsstätten und Einrichtungen ausserhalb der Armee und pflege die internationale Zusammenarbeit mit der Militärseelsorge anderer Staaten.
Wie kann sich die Armeeseelsorge weiterentwickeln?
Die Armee nimmt die Diversität der Schweizer Gesellschaft ernst. Demzufolge entwickelt sich auch die Armeeseelsorge weiter, ohne dabei ihre Truppennähe aufzugeben. Der Mensch in Uniform steht im Fokus jeder Entwicklung. Theologisch gesagt: Ist die Armeeseelsorge nahe bei den Menschen, ist sie auch nahe bei Gott.
Zu guter Letzt: Wie sieht Ihr Glaube aus?
Ich lebe meinen Glauben in und durch meinen Alltag, gerade auch durch meine berufliche Tätigkeit. Egal ob ich Konzeptarbeit mache oder seelsorgliche Gespräche führe, ob ich als Chef etwas vertreten und vorangehen muss oder ob ich beauftragt werde, unterstützende Beiträge zu leisten, immer oder doch meist fühle ich mich mit allem, was mir geschenkt ist, gebraucht. Mein Glaube bekommt handfesten Boden und ein Gesicht, indem ich mich mit meinem ganzen Sein in den Dienst meiner mir aufgetragenen Arbeit stelle und ich das, was ich bin und kann in den Dienst jener Menschen stelle, zugunsten welcher ich tätig bin. In all meinen Begegnungen werde ich immer auch reich beschenkt und genährt.
Stefan Junger, 53, war zwanzig Jahre als reformierter Pfarrer tätig und daneben fast gleich lang auch in der Armeeseelsorge tätig. Seit 2014 ist er deren Chef.