Christian Rutishauser SJ und Jasmin El-Sonbati kennen sich aus in Nahost. Foto: Annalena Müller, Bearbeitung: Felix Huwyler

Krieg in Nahost: «Die Extreme sind zu gross»

Seit Sonntag schweigen die Waffen in Gaza. Das «pfarrblatt» hat den Israel-Spezialisten Christian Rutishauser SJ und die Halbägypterin Jasmin El-Sonbati nach ihrer Einschätzung der Situation gefragt.

 

Annalena Müller

Seit dem 19. Januar schweigen die Waffen in Nahost. Israel und die Hamas haben sich auf eine 42-tägige Feuerpause und die Freilassung von 33 israelischen Geiseln geeinigt. In Europa hoffen viele nun auf Frieden in Nahost. Das «pfarrblatt» hat bei dem Israel-Kenner Christian Rutishauser SJ und der Nahostkennerin Jasmin El-Sonbati nachgefragt, wie sie die Lage einschätzen.

Beide reagieren zurückhaltend. Für Rutishauser ist die Feuerpause zwar ein «wichtiger Schritt vom Krieg zurück in Richtung politischer Verhandlungen», aber auch nicht mehr. Jasmin El-Sonbati hat den Beginn des Waffenstillstands in Ägypten erlebt. Ihr Ausblick ist düsterer: «Ich bin leider realistisch in dem Sinne, dass ich keine friedliche Lösung sehe.»

Die Interviews wurden separat geführt. Da beiden die gleichen Fragen gestellt wurden, sind sie hier zusammen aufgeführt.

Seit einigen Stunden gilt ein Waffenstillstand. Sind Sie erleichtert, Herr Rutishauser?

Christian Rutishauser*: Erleichtert ist zu viel gesagt. Ich bin sehr froh, dass es zum Waffenstillstand gekommen ist. Das Leid der palästinensischen Bevölkerung muss gelindert werden. Die Geiseln müssen freikommen. Wir erleben einen wichtigen Schritt vom Krieg zurück in Richtung politischer Verhandlungen. Doch mit Terroristen kann man keine Politik machen.

Wie wird das Abkommen bei Ihren Freunden in Israel aufgenommen?

Rutishauser: Eine gute Freundin in Jerusalem, mit der ich am Donnerstag gesprochen habe, ist gegen die aktuelle rechte Regierung. Sie ist für das Abkommen, um der Geiseln und der Palästinenser willen. Doch sie ist voll Sorge, ob weitere Schritte durchgeführt werden. Ein Rabbiner wiederum, mit dem ich dieser Tage einen Workshop online vorbereitete, meinte nebenbei, dass überhaupt kein Problem gelöst sei, weil im Gazastreifen nun ein Vakuum entsteht.

Glauben Sie, dass es jetzt eine echte Chance auf Frieden gibt?

Rutishauser: Was heisst es, in einer so verfahrenen Situation realistisch zu sein? Was heisst da Frieden? Es bräuchte eine politische Vertretung der Palästinenser, die mit Israel verhandelt und die Selbstverwaltung in Gaza an die Hand nimmt. Die Hamas sind Terroristen, die keine politische Lösung mit Israel wollen. Mahmud Abbas ist nicht fähig, Verantwortung zu übernehmen. Ich verstehe nicht, warum die Palästinenser nicht die eigene politische Klasse herausfordern. Frieden gibt es nur, wenn beide Seiten Verantwortung übernehmen.

Das Waffenstillstandsabkommen kam einen Tag vor der Amtseinführung von Donald Trump. Sie verfolgen die Nachrichten. Welche Rolle hat die Furcht – oder auch der Respekt – vor Donald Trump gespielt?

Rutishauser: Das Abkommen ist wohl ein Zusammenspiel von der Regierung Biden und der neuen Regierung unter Trump. Der Machtwechsel in den USA war ein entscheidender Faktor. Es ist wieder einmal offensichtlich, dass der Nahe Osten ferngesteuert ist, sei es zum Guten wie zum Schlechten.

 

Nach eineinhalb Jahren Krieg, der unermessliches Leid über eine Zivilbevölkerung gebracht hat, sind die Gräben zementiert. Wie kann es jetzt weitergehen?

Rutishauser: Das Leid ist in jedem Krieg vielgestaltig. Es trifft verschiedenste Gruppen. Es darf nicht gegeneinander ausgespielt werden. Traumatisiert sind alle. Losgetreten haben diesen Krieg die Hamas, also Extremisten. Extremisten stellen auf arabischer wie jüdischer Seite ein Hauptproblem dar. Es gilt, sie rechtsstaatlich zu bekämpfen. Und sie verlieren ihren Rückhalt in einer Bevölkerung, die bereit ist, zivilgesellschaftliche und politische Verantwortung selbst zu übernehmen.

Was hoffen Sie ganz persönlich?

Rutishauser: Für Gaza braucht es internationale Hilfe, humanitär wie politisch, damit ein palästinensisches Gemeinwesen aufgebaut werden kann. Eine zweite Chance sollte nicht vertan werden. Für Israel und die Westbank braucht es nun über lange Zeit das konstante Aufbauen einer Zivilgesellschaft, in der Juden wie Nicht-Juden sich kulturell entwickeln und entfalten können. Dazu muss Politik behilflich sein. Und als Christ hoffe ich, dass alle religiösen Gemeinschaften einen wesentlichen Beitrag leisten.

 

Sind Sie erleichtert über den Waffenstillstand, Frau El-Sonbati?
Jasmin El-Sonbati**: Ehrlich gesagt, nicht wirklich. Noch immer sind Geiseln in der Hand der Hamas, Gaza ist zerstört. Und man weiss nicht, ob die Waffenruhe wirklich halten wird.

Sie waren bis Sonntagabend in Ägypten. Wie haben Ihre Verwandten die Nachricht aufgenommen?
El-Sonbati: Die Bevölkerung ist auf der Seite der Palästinenser. Die Bewohner Gazas werden als Opfer gesehen, was sie natürlich auch sind. Die andere Seite, nämlich der Anschlag vom 7. Oktober und die Rolle der Hamas, wird ausgeblendet. Ausserdem kursieren Verschwörungstheorien, wonach es gar nicht die Hamas gewesen sei, sondern die Israelis selbst, die den Anschlag verübt hätten. Zu Ihrer Frage: Die untere und mittlere Bevölkerungsschicht hat kaum den «Luxus», sich um Politik zu kümmern. Wenn doch, dann sind die Menschen sehr skeptisch: Diese Pause sei nur vorübergehend, bis Israel die Geiseln zurückbekommt. Dann würde der Krieg weitergehen.

Glauben Sie, dass es jetzt eine echte Chance auf Frieden gibt?
El-Sonbati: Nein. Dafür sind die Extreme zu gross und die Positionen zu weit auseinander. Es geht immer weiter, der Hass wird immer grösser. Es ist immer der andere schuld. Ich glaube, es hört nie auf. Aber natürlich hoffe ich, mich zu täuschen.

 

Nach eineinhalb Jahren Krieg sind die Gräben zementiert. Wie kann es jetzt weitergehen?

El-Sonbati: Ich bin leider sehr realistisch in dem Sinne, dass ich keine friedliche Lösung sehe. Man kann ja nicht einmal bei uns über das Thema Nahost ruhig diskutieren, so tief sind die Gräben. In Europa gelingt eine kontroverse Diskussion vielleicht noch eher, aber in Ägypten nicht. Die politischen Meinungen zum Thema sind sehr rudimentär, um nicht zu sagen primitiv: Amerika bestimmt, was in der Welt passiert. Amerika ist ein Freund Israels. Die Araber bzw. die Palästinenser sind Opfer und haben das Nachsehen. Natürlich schwingt immer eine grosse Prise Antisemitismus mit, so im Stil von «Wir wissen ja, wie die Juden sind, schon Allah hat im Koran vor ihnen gewarnt.» Was will man da als rational denkender Mensch und als friedliebende Person antworten?

Was hoffen Sie persönlich?
El-Sonbati: Natürlich hoffe ich auf einen echten Frieden. Aber diese Hoffnung ist nicht realistisch. Kürzlich habe ich im österreichischen Fernsehen den ehemaligen israelischen Premierminister Olmert mit einem palästinensischen ehemaligen Politiker der Fatah – beide sind um die 80 – im Gespräch gesehen. Sie haben einen Plan, meinten sie, und den würden sie gerne umsetzen. Die zwei waren zuversichtlich. So zuversichtlich möchte ich auch gerne sein. Aber bisher gibt es zu wenig Stimmen des Zusammenkommens.

 

*Christian Rutishauser (59) ist Jesuit und in St. Gallen aufgewachsen. Zwischen 2014 und 2024 war er ständiger Berater des Heiligen Stuhls für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum. Im Sommer 2024 trat er die Professur für Judaistik und Theologie an der Universität Luzern an.

**Jasmin El-Sonbati (64) wuchs in Kairo und der Schweiz auf. Sie ist die Verfasserin von zwei Sachbüchern. «Moscheen ohne Minarett. Eine Muslimin in der Schweiz» und «Gehört der Islam zur Schweiz?» sind beide im Berner Zytglogge Verlag erschienen.