Niemanden vorverurteilen, Vertrauen schenken – auch einem Schwerverbrecher. Das ist die Haltung von Seelsorger und Therapeut Samuel Buser. Foto: Rajesh Rajput, unsplash.com

«Jeder hat etwas Versöhnendes in sich»

15.12.2021

Wie Seelsorger Samuel Buser Menschen im Gefängnis begegnet.

Niemanden vorverurteilen, Vertrauen schenken – auch einem Schwerverbrecher: Mit dieser Haltung arbeitet Seelsorger und Therapeut Samuel Buser mit Menschen im Gefängnis. Jeder verfügt seiner Ansicht und Erfahrung nach über das Potenzial, eine Wandlung zu vollziehen: vom Verbrecher zum Versöhner.

Interview: Marcel Friedli

«pfarrblatt»: Vom Verbrecher zum Versöhner: Ab und zu hört man solche Heldengeschichten. Wie oft kommen sie Ihnen zu Ohren?

Samuel Buser: Jeder Mensch hat Versöhnliches und Versöhnendes in sich. Bei einer starken sozialen oder psychischen Störung kann dieser Aspekt indes verdeckt und versteckt sein. Ich höre oft, dass den Täter:innen ihre Tat leid tut.

Aus taktischem Kalkül – damit es eine kürzere Strafe gibt?

Der Aspekt der Reue spielt beim Strafprozess eine Rolle. Dementsprechend wirken Anwält:innen auf ihre Mandant:innen ein. Und es gibt wohl schon Personen, die taktieren. Ob ihre Reue echt ist, kann ich nicht beurteilen oder kontrollieren, da ich nicht in die Menschen hineinsehe.

Sind Sie gutgläubig?

Ja und nein. Als Seelsorger und Psychotherapeut verdächtige ich niemanden und höre möglichst offen und vorurteilsfrei zu. Vertrauen ist die Basis jedes seelsorgerischen und therapeutischen Gesprächs. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Person die Wahrheit sagt. Wobei ich genau zuhöre, allenfalls nachfrage, auf Widersprüche hinweise.

Es ist umstritten, ob Einsperren den versöhnenden Aspekt fördert. Spüren Sie bei den Täter:innen Sehnsucht nach Versöhnung?

Ja, bei der Mehrheit der Menschen, die in Haft sind. Nicht selten sind sie selbstkritisch. Zudem werden sie mit ihrer Tat konfrontiert, mit dem Ziel: Was braucht es, damit es nicht nochmals dazu kommt? Doch auch wenn Erkenntnis und Sehnsucht nach Versöhnung da sind, kann es zu Rückfällen kommen.

Der erste Schritt ist das Erkennen und Verstehen?

In der Untersuchungshaft werden die mutmasslichen Täter:innen auf sich selbst zurückgeworfen. Ihnen wird bewusst, welche Konsequenzen die Tat hat: dass sie zum Beispiel ihre Stelle verlieren oder ihre Familie stark belasten und allenfalls verlieren. Möglich ist auch, dass ihnen bewusst wird, was sie dem Opfer angetan haben. Ich erlebe, dass Menschen Reifungsprozesse durchmachen.

Zum Beispiel?

Ein Mann wurde wegen mehrerer Vergewaltigungen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Heute arbeitet er in einem verantwortungsvollen Beruf und hat eine Familie.

Wie ist das möglich?

Mithilfe eines jahrelangen therapeutischen Prozesses. Er hat sich mit seiner Tat auseinandergesetzt, die schwere Störung wurde behandelt, auch mit Medikamenten. Und er hat es geschafft, aus einem schwierigen Milieu herauszukommen.

Oft werden Verbrechen begünstigt, wenn man keine Arbeit hat, Suchtproblematiken vorliegen, eine schmerzhafte Geschichte oder ein schwieriges Umfeld. Wobei dies nicht als billige Entschuldigung herhalten darf.

Stichwort Umfeld: Oft macht das Gefängnis die Menschen nicht besser. Es herrscht ein raues Klima.

Sicher kann man im Gefängnis Dinge lernen, die einem nicht guttun. Und es ist nur bedingt der Ort, an dem man lernt, die Anforderungen des Lebens zu bewältigen. Darum ist es wichtig, mit den Klient:innen frühzeitig mit der Realität zu arbeiten, die sie draussen erwartet. Lange Gefängnisstrafen führen meist kaum zum Ziel: nämlich dazu, dass man nie mehr im Gefängnis landen will, weil man sich der Folgen bewusst ist. Entsprechend nötig ist es, draussen zu üben: zum Beispiel mit betreutem, begleitetem Wohnen, mit Bewährungshilfe.

Sie selber sind im Gefängnis auch als Seelsorger aktiv. Wie unterscheidet sich dies von ihrer Rolle als Psychotherapeut?

Im Unterschied zur Therapie ist die Seelsorge freiwillig. Und als Seelsorger erstatte ich niemandem Bericht. Jede:r kommt mit einem Anliegen. Es ist ein Ort, an dem man auch klagen kann: über die Bedingungen im Gefängnis, über die aktuelle Situation, die Justiz. Oft nutzen die Gefangenen die Gelegenheit zum Reflektieren.

Wie häufig wird dieses Angebot genutzt?

Die Seelsorge wird in den Gefängnissen als wichtiges Angebot eingestuft. Fällt einer der Betreuungspersonen auf, dass es einem Insassen, einer Insassin schlecht geht, machen sie ihn oder sie auf diese Möglichkeit aufmerksam. Etliche melden sich von sich aus. Oft entstehen schöne Gespräche.

Welche Rolle spielt der spirituelle, religiöse Aspekt?

Ich bin da ziemlich zurückhaltend. Missionieren liegt mir fern. Nehme ich jedoch Offenheit oder ein entsprechendes Bedürfnis wahr, kann es sein, dass ich ein Zitat oder eine Geschichte aus der Bibel lese, die zur Situation passt. Oder es kommt zu einem gemeinsamen Gebet.

 

Samuel Buser
Nach kaufmännischer Lehre und Matura hat der 62-jährige Samuel Buser Theologie und (psychotherapeutische) Psychologie und studiert. Seit drei Jahrzehnten ist er Seelsorger in der Justizvollzugsanstalt Witzwil. Zudem ist er seit knapp zwanzig Jahren als Psychotherapeut im Strafvollzug von Frauen tätig. Weiter arbeitet er seit 2007 als leitender Psychologe beim forensisch-psychiatrischen Dienst der Universität Bern.
Samuel Buser hat eine Masterarbeit publiziert: Psychotherapie und Seelsorge im Strafvollzug. Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Verlag Peter Lang

 

Vom Verbrecher zum Versöhner

Diesen Weg gegangen ist der ehemalige Bankräuber Ruedi Szabo: Er hat sechs Jahre im Gefängnis verbracht. Danach bildete er sich zum Journalisten, Arbeitsagogen, Antiaggressivitätstrainer und ADHS-Coach aus. Für das Diakoniewerk Elim und die Stadt Basel ist er unterwegs, um Menschen am Rande der Gesellschaft Erste Hilfe zu leisten. Sein bewegtes Leben hat der 62-jährige Vater von fünf Kindern aufgeschrieben. «Mit dieser Biografie», sagt er, «will ich aufzeigen, dass jede:r eine Chance erhält.» Zudem wolle er Opfer ermutigen, mit den Täter:innen das Gespräch zu suchen. «Und ich will zeigen, dass es eine Macht gibt, an die zu glauben sich lohnt.»

Biografie: Rudolf Szabo, Nicolai Franz. Knallhart durchgezogen. Mein Leben zwischen Bankraub, Knast und der Suche nach Frieden. SCM Hänssler, 2021.