«In Trauer vereint» – rund 200 Leute kamen am 17. Oktober zu diesem Motto ins «Haus der Religionen». Foto: Pia Neuenschwander

«Jeder Mensch trägt Verantwortung für den andern»

Gedenkanlass zum Angriff der Hamas auf Israel im Haus der Religionen

«In Trauer vereint» – rund 200 Leute kamen am 17. Oktober zu diesem Motto ins «Haus der Religionen». Anlass war der Angriff der Hamas auf Israel. Unter den Redner:innen waren auch der neue Rabbiner von Bern und der neue Imam der Moschee im Haus der Religionen.

Von Sylvia Stam

Ein ungewöhnlicher Anblick: Zwei Polizisten posieren vor dem Haus der Religionen. Drinnen werden die Taschen der zahlreichen Besucher:innen abgetastet, einige geöffnet. Eine Viertelstunde vor Beginn müssen weitere Stühle herbeigeholt werden.

Nur zwei Tage zuvor hatte das Haus der Religionen zu diesem Anlass eingeladen, unter dem Titel «In Trauer vereint». Trauer, Hoffnung und die Bitte um Frieden standen denn auch im Zentrum der fünf kurzen Reden, die an diesem Abend gehalten wurden. Unterbrochen jeweils von einer kurzen Stille, während die Redner:innen eine Kerze anzündeten. Umrahmt wurden die Statements von schlichten Melodien auf einem Englischhorn und vom Gesang des Chors der Nationen.

Erstes Pogrom gegen Juden seit Holocaust

«Der Terror entsetzt uns», sagte Alec von Graffenried. «Was wir sehen, sind Momente der Entmenschlichung, der Unmenschlichkeit.» Die Geiselnahmen seien von «niederträchtiger Entsetzlichkeit», so der Berner Stadtpräsident, ohne die Geiselnehmer:innen zu benennen.

Der Angriff der Hamas sei «das erste Pogrom gegen Juden seit dem Holocaust». Das «Nie wieder», welches dem jüdischen Volk versprochen worden sei, «konnten wir nicht halten.» Vehement wehrte sich der Politiker gegen die Haltung, der Konflikt sei religiös motiviert. «Das ist falsch.» Wenn Religion zum Vorwand für Krieg und Terror angerufen werde, sei das «ein Missbrauch der Religion.»

Verantwortung übernehmen

Am politischsten wurde der neue Rabbiner der jüdischen Gemeinde Bern, der offiziell diesen Donnerstag in sein neues Amt eingesetzt wird. Jehoschua Ahrens zitierte die biblische Geschichte von Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt. Die fünfmalige Verwendung des Begriffs «Bruder» weise darauf hin, dass alle Menschen Brüder und Schwestern seien, nach Gottes Ebenbild geschaffen. Diese Menschlichkeit sei jedoch «bei den Hamas-Terroristen nicht vorhanden.» Die Hamas-Terroristen haben Israelis nicht nur getötet, sondern sie haben sie abgeschlachtet.»

«Wo ist dein Bruder Abel», laute Gottes Frage an den Mörder Kain. Natürlich wisse Gott, dass Kain ihn umgebracht habe. «Er will damit sagen: Was hast du gemacht? Wo stehst du?» Gott frage nach der Verantwortung von Kain. Doch statt Verantwortung für seine Tat zu übernehmen, sage dieser einfach: «Bin ich der Hüter meines Bruders?»

Ahrens sieht im Nicht-Übernehmen von Verantwortung «das Urproblem der Menschheit. Jeder Mensch trägt Verantwortung für den andern, auch dem Fremden gegenüber.» Die Terroristen würden keine Verantwortung übernehmen. Für sie gebe es nur die Ideologie der Vernichtung. Diese richte sich nicht nur gegen Israelis, sondern auch gegen Palästinenser und gegen den Islam. Sie richte sich gegen alle, die eine Wertegemeinschaft der Solidarität, der Nächstenliebe und Mitverantwortung bildeten.

Keine Ausgewogenheit suchen

Deshalb sei jetzt nicht die Zeit, «um eine Ausgewogenheit zu suchen, um zu sagen, wir müssen beide Seiten sehen. Jetzt ist die Zeit, Verantwortung zu übernehmen.» Die Frage sei an jeden von uns gerichtet: «Wo stehst du?»

Nach diesen politischen Worten des Rabbiners trat Ramadan Shabani, neuer Imam des mulimischen Vereins Bern und damit Vorsteher der hauseigenen Moschee, ans Mikrofon und sang eine Koransure. Berührend die Stimme in ihrem typischen Sprechgesang, blieben seine Worte inhaltlich etwas unverbindlich: Der Vers betone die Einheit der Menschheit und ermuntere die Menschen, unabhängig von Ethnie, Glauben und Überzeugungen zusammenzuhalten, sagte er in noch etwas unsicherem Deutsch.

Den Abschluss bildeten Angela Büchel Sladkovic, Vertreterin der Katholischen Kirche Region Bern, und Judith Pörksen Roder, Synodalratspräsidentin der Reformierten Kirchen Bern Jura Solothurn, die gemeinsam ans Mikrofon traten. Büchel erinnerte an die Angst Jesu im Garten Gethsemani im Gedenken an die Not der Betroffenen auf beiden Seiten. Pörksen rief die Worte Jesu aus der Bergpredigt in Erinnerung: «Selig, die Frieden stiften». Sie ermutigte die Anwesenden, «trotz allem an Hoffnung auf ein friedliches Miteinander verschiedener Religionsgemeinschaften festzuhalten.»

Verantwortung für die Palästinenser:innen

Unter den Stimmen, die das «pfarrblatt» nach der Veranstaltung einholte, erinnerte ein Besucher daran, dass die Frage des Rabbiners auch bedeute, Verantwortung für die Palästinenser zu übernehmen. «Seit 75 Jahren gibt man einzelnen Völkern nicht genug Raum. Das ist nicht allein die Schuld von Israel, sondern auch von den Siegermächten nach 1945.» Seine Frau erzählte, dass sie seit Jahren jeden zweiten Freitag Mahnwache hielten für Frieden in Israel und Palästina. Letzten Freitag sei der Anlass erstmals ausgefallen, weil sie in der aktuellen Situation Sicherheitsschutz gebraucht hätten. Das hätten sie jedoch nicht gewollt. «Jetzt sind wir hier.»

Eine weitere Besucherin, die mit einem jüdischen Mann verheiratet ist, kam bewusst ins Haus der Religionen, «weil hier alle Religionen vertreten sind. Ich hätte jetzt nicht nur in die Synagoge gehen können.» Ein türkischer Vater ist mit seinem Sohn gekommen. In gebrochenem Deutsch sagt er: «Wir sind Muslime. Ich war interessiert, was sie hier sagen.» Der Imam der türkischen Moschee habe auf den Anlass aufmerksam gemacht. Wichtig ist ihm festzuhalten: «Terrorismus ist immer Terrorismus, ohne Wenn und Aber.» Terrorismus habe mit Religion nichts zu tun. «Was die Hamas gemacht hat, ist Terrorismus.»