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Jeder Tag einzeln

10.03.2022

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Es ist Freitagabend, eine intensive Arbeitswoche mit unzähligen einnehmenden Momenten liegt hinter mir. Innerlich bin ich gezwungenermassen bereits am «Runterfahren» und freue mich auf das bevorstehende, freie Wochenende.

Das Telefon klingelt – eine Patientin, die ich nun schon länger begleite und bereits seit einiger Zeit hospitalisiert ist, hat nun erneut eine Diagnose erhalten, die sie aufgelöst und verzweifelt hinterlässt. Ich mache mich auf den Weg, um sie in dieser Situation zu unterstützen.

Wenig später sitze ich mit den Angehörigen der Patientin an ihrem Bett. Diese berichten, was ihnen gerade im eben vonstattengegangenen Arztgespräch mitgeteilt wurde. Ein «Hammer », ein «Chlapf a Grind», sagt die Patientin, sei die wenig hoffnungsvolle Prognose, welche die neue Diagnose mit sich bringt. Schweigen, Weinen, tröstende Worte der umstehenden Menschen. Gern möchte ich ebenfalls etwas Aufmunterndes, Hoffnungsvolles sagen. Das scheint mir in diesem Moment jedoch als zynisch und ich unterlasse es deshalb, entsprechende Worte zu wählen. Wegen dieser Diagnose gibt es kein Entkommen. Die Fakten sind klar und sprechen für sich. Das Ende kommt ihr unausweichlich entgegen. Dieser Frau läuft die Zeit davon. Keine Zeit mehr für Reisen, keine Zeit mehr für das nächste Weihnachtsfest, keine Zeit – nicht einmal mehr, um noch einmal nach Hause zu fahren, um ein letztes Mal Abschied von der gewohnten Umgebung zu nehmen.

In diesem Moment kommt mir eine Postkarte in den Sinn, welche mir eine frisch pensionierte Kollegin per Post vor Kurzem zugeschickt hat. Darauf steht: «Langsam vergeht der Monat. Jeder Tag einzeln.» Ein krasser Gegensatz, wie Zeit im eigenen Alltag erlebt wird, denke ich und schweige.

Im Patientinnenzimmer wird darüber gesprochen, wie die verbleibende Zeit nun noch genutzt werden könnte. Was noch möglich ist, oder auch nicht mehr möglich sein wird. Niemand weiss, wie viel Zeit ihr tatsächlich noch bleiben wird.

Auf dem Nachhauseweg in das arbeitsfreie Wochenende kreisen meine Gedanken um das eben Erlebte. «Jeder Tag einzeln – ist es das, was zählt?», frage ich mich. Dieser Satz bildet ein Zentrum, um das in rascher Reihenfolge Gedanken von eigenen Wünschen, Plänen, aber auch Versäumnissen kreisen, auf die ich noch heute keine abschliessenden Antworten kenne.

Die Patientin verstirbt am folgenden Sonntag. Ich erfahre das an meinem nächsten Arbeitstag, an dem die Sonne scheint, wie sie an meinem freien Sonntag geschienen hat.

Patrick Schafer, kath. Seelsorger

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