Eigentlich könnten wir zufrieden sein, sind aber doch leer und enttäuscht: Tomáš Sedláček. Foto: zVg

Jenseits von Gut und Böse

22.06.2016

Tomáš Sedláček, Bestsellerautor und Ökonom, spricht in der «offenen kirche» in Bern über Geld als Religion und Glaubenssache.

Mit etwas über 20 Jahren war Tomáš Sedláček als Wirtschaftsstudent schon Berater des tschechischen Präsidenten Václav Havel. Später ging er zum Weiterstudium in die USA. 2009 veröffentlichte er sein Buch «Die Ökonomie von Gut und Böse». Als Dissertation waren seine Überlegungen zuvor abgelehnt worden als «zu wenig wissenschaftlich», als Buch wurden sie rasch zum Bestseller.


In der Tat geht er sehr ungewohnte Denkwege für einen Wirtschaftswissenschaftler: Er fängt mit dem mesopotamischen Gilgamesch-Epos an und bezieht sich auch ausführlich auf biblische Texte. Hier und in den Schriften der klassischen Philosophie und bei den Denkern der frühen Neuzeit findet Sedláček Beispiele dafür, wie grundlegend ökonomische Fragen mit denen anderer Lebensbereiche verwoben sind. Die Autoren des Gilgamesch-Epos, der Bibel, Homer oder Hesiod: Sie alle erzählen von Produktivität und Effizienz, von kluger Steuerpolitik, vom Fortschritt, von menschlicher Arbeit, von Gier und Unersättlichkeit.

Biblische Ökonomie

Sedláček geht den Grundlagen und Voraussetzungen der Wirtschaft nach und zeigt auf, dass nicht nur wirtschaftliches Handeln, sondern auch wirtschaftliches Denken nicht unabhängig von ethischen Fragen betrieben werden kann. Auch seine Vorschläge für die Reform des krisengeschüttelten Kapitalismus speisen sich aus biblischen Ideen: Weg von der Droge der Verschuldung hin zu einem System, das in fetten Jahren Vorräte für magere Jahre anlegt – wie in der Geschichte von Joseph in Ägypten.
Weg von der Vorstellung, man könne die Konjunktur auf Nachkommastellen genau prognostizieren, da doch die besten Vorhersagen diejenigen sind, die sich, wie im Fall des Propheten Jona, nicht erfüllen, weil sie eine Verhaltensänderung auslösen. Und, dies eine weitere Empfehlung, öfters einmal ein Sabbatjahr einlegen: nicht nur in den Laufrädern der Produktivitätssteigerung vor sich hin hasten, sondern auch geniessen, was erarbeitet worden ist. Geld ist nicht Mittel zum Zweck, sondern eine Glaubenssache – davon ist Tomáš Sedláček überzeugt: Das Geld hält unsere Gesellschaft zusammen und der Glaube an das Geld und an die Ökonomie bestimmen unsere Leben wie kaum etwas anderes.

Die andere Glaubenssache

Die Ökonomie macht heute den Eindruck, als stehe sie ausserhalb von Gut und Böse. Als sei sie unabhängig von Moral – nur Modell und Mathematik. Aber nach Tomáš Sedláček ist sie die Religion unserer Zeit schlechthin. Möglicherweisedie wirkungsmächtigste, die es jegegeben hat. Mit Wachstum und Markt als ihren Göttern. Und wie in jeder Religion geht es auch in der Ökonomie um die grossen Fragen. Um Werte und Moral. Und nicht nur um Zahlen und Beträge. Sind wir in einem religiösen Wahn gefangen – süchtig nach Geld, Wachstum und Profit? Sind die Ökonomen die neuen Priester, die dem Einzelnen und der Regierung sagen, was sie zu tun haben? Tomáš Sedláček geht den heutigen, vorherrschenden ökonomischen Theorien auf die Spur und zeigt, wie sie und ihre Erzählungen unser Denken beherrschen. Und wie wir uns davon befreien können, ohne deshalb den Glauben ans Geld gänzlich aufgeben zu müssen.

Heute ist der knapp 40-jährige Querdenker Chefökonom der grössten tschechischen Bank. Zugleich beschäftigt er sich auch weiter mit grundsätzlichen Fragen. So hat er 2015 ein neues Buch veröffentlicht: «Lilith und die Dämonen des Kapitals». Wieder geht er grenzüberschreitend vor, diesmal, indem er die Ökonomie mit psychoanalytischem Blick untersucht: Die kapitalistische Gesellschaft im Westen – insbesondere in den USA – leide seit zehn Jahren unter einer manischen Depression. Manisch handelnde Regierungen, Banken und Privathaushalte hätten einen Kollaps bewirkt, weil sie zu viel gewollt, zu viel konsumiert und dadurch hohe Schulden angehäuft hätten.

Kapitalisten seien süchtig nach Wachstum, weil sie wie Drogensüchtige glaubten, ohne diesen Stoff nicht leben zu können. Die einhergehende Verschuldung führe irgendwann zum Bankrott und könnte unsere westliche Zivilisation zerstören. Manisch-depressiv seien wir auch deshalb geworden, weil wir zwar schnell wachsen können, ohne jedoch stabil zu sein. Eigentlich könnten wir zufrieden sein, was wir im Westen materiell erreicht haben, doch stattdessen seien wir oft leer und enttäuscht. Sind wir am Ende des Kapitalismus angelangt?

Irene Neubauer, «offene kirche»

KID

Vortrag von Tomáš Sedláček
Ort: «offene kirche» in der Heiliggeistkirche Bern (die beim Bahnhof). Dienstag, 28. Juni, 19.30. Musikalische Umrahmung: Andreas Jud interpretiert Werke rund ums Thema Geld an der Orgel. Kollekte. Die Rede ist in Englisch. Anmeldung für Simultanübersetzung: www.stapferhaus.ch/lenzburgerrede