Fra Angelico OP, Bildzyklus zu Szenen aus dem Leben Christi für einen Schrank zur Aufbewahrung von Silbergeschirr; Szene: Flucht nach Ägypten, um 1450. Museo di San Marco, Florenz.

Jesus im anderen wahrnehmen

01.12.2015

«Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt.» (Joh. 12,46)

Liegt Nazareth nicht überall in unserer Welt? Seit einigen Jahrzehnten wird die ‹Heilkraft› der Märchen von der Theologie wahrgenommen. Das kommt nicht von ungefähr, denn in den Märchen ist tiefe Weisheit verborgen, die darauf wartet, entdeckt zu werden. Auch haben die Erzählungen nicht selten einen religiösen Gehalt, der jedoch nicht auf Anhieb offensichtlich ist, sondern vielmehr gedeutet werden muss.

Ein Hindu-Philosoph erzählt folgendes Märchen: «Es war einmal ein Königssohn, der sich in seiner Kindheit weit von seinem Vaterhaus entfernte und den Heimweg nicht mehr fand. Sein Weg führte tief in die Wälder, in denen er auf die Wilden stiess. Je länger er mit ihnen zusammenlebte, um so mehr glaubte er, er sei selbst einer der Wilden, unter denen er lebte. Eines Tages entdeckte ihn ein Gesandter seines Vaters und offenbarte ihm seine Herkunft. Staunen überfiel ihn, denn jetzt wusste er, wer er in Wirklichkeit war, woher er kamund wohin er gehenmusste. So folgte er dem Gesandten ins Vaterhaus zurück. So verkennt die Seele – fährt der Hindu-Philosoph fort – durch die Umgebung, in der sie lebt, sich selbst, bis ihr die Wahrheit durch einen heiligen Lehrer offenbart wird.»

Dreierlei Dinge / Es sind meines Erachtens mehrerlei Dinge, die uns dieses Märchen zu Bewusstsein bringen will: Es macht deutlich, dass jeder Mensch vornehmster Abstammung ist. In der Apostelgeschichte heisst es «Wir sind von Gottes Art» (17,28). Diese Art macht die Würde eines jeden Menschen aus. Sie sagt ihm, wie er sein Leben in der Nachfolge Jesu Christi gestalten soll: nämlich königlich. Im Alten Testament lädt der Prophet Jesaja uns dazu ein: «Blickt auf den Felsen, aus dem ihr gehauen seid.» (51,1) – Das ist eine Aufforderung, den eigenen Ursprung und den unserer Mitmenschen nicht aus den Augen zu verlieren: alles in unseremLeben haben wir auf Gott zu beziehen und auf diese Weise ein gleichsam königliches Leben zu führen. Konkret heisst dies, dass wir nach ethischen Prinzipien zu handeln haben und nicht allein nach dem, was uns im Augenblick als das Praktischste erscheint. Und das Märchen sagt schliesslich: Habt Vertrauen, es gibt immer einen, der dem Menschen nachgeht, wohin wir uns auch verlaufen mögen. Er bleibt ihm auf den Fersen, er sucht ihn, bis er ihn gefunden hat, um ihm zu offenbaren, wer er in Wirklichkeit ist – wer er von Gott her als seinem Schöpfer ist.

Wenn wir dieses Märchen in den christlichen Kontext stellen, denke ich, wird sichtbar, welche Bedeutung Jesus Christus für den Menschen hat, welche Bedeutung die Menschwerdung Gottes an Weihnachten für jeden von uns hat: Jesus ist Lehrer, der gekommen ist, um mit vielen Gleichnissen zu veranschaulichen, welch hohe Würde und Bestimmung dem Menschen gegeben ist.
Aber Jesus ist nicht nur als Lehrer zu verstehen. Er ist als Gottes Sohn auch der Gesandte Gottes, der Befreier von Sünde, Not und Tod, wie sie sich in unseren Tagen in vielfältiger Art und Weise Bahn brechen in Form von Eigensinn, Fanatismus, Fremdenhass, Denunziation und Gewalt. Von Johann Wolfgang von Goethe stammt das Wort: « Ich wusste nicht, wo ich ging, noch wohin ich wollte, und machte daher einen schweren Gang. » Jesus versteht sich als «der Weg», der von der Krippe zur Wahrheit und zum Leben führt. Ohne ihn bewegen wir uns nur auf Wegen, die zu uns selber führen und bei uns selber enden. Jesus führt uns über uns selbst hinaus zum Vater. So gelangen wir dorthin, wohin wir unseremUrsprung nach hingehören.

Die Flucht der Heiligen Familie aus ihrer Heimat nach Ägypten erinnert uns an das Schicksal unzähliger Menschen in unseren Tagen. So wie den Flüchtlingen erging es Jesus und seinen Eltern, die nur ihr nacktes Leben retten konnten, und in der Fremde eine Bleibe fanden. In der Geschichte gab es immer wieder ≪helfende Hände≫, die Menschen auf der Flucht unterstützt und aufgenommen und Gott ein menschliches Antlitz gegeben haben. Im April 2014 wurde der aus Italien stammende Dominikanerpater Giuseppe Girotti OP von Papst Franziskus als Märtyrer seliggesprochen. Mitmenschen jüdischen Glaubens, die er vor Verfolgung nach der deutschen Besatzung Norditaliens 1943 nach Kräften schützte, nannte er ≪seine älteren Brüder≫, wie später der heilige Papst Johannes Paul II. Möge uns der selige Pater Girotti ein Vorbild sein, in unserem christlichen Verhalten gegenüber verfolgten Menschen unserer Tage: «Die Kirche war, ist und wird immer die einzige Zuflucht der Menschlichkeit, Liebe und Barmherzigkeit sein.» (Predigt P. Girotti, KZ Dachau, Kapelle Block 26, 21.1.1945)

P. Uwe Augustinus Vielhaber OP

Kurator der Ausstellung «Krippenkunst traditionell und modern / L’enfance que tu es», die aktuell im Zentrum Dreifaltigkeit in Bern gezeigt wird.