Kampf gegen Missbrauch: Der Blick zum Nachbarn

Der Kampf gegen sexuellen Missbrauch kommt nur langsam voran. Swiss Olympic ist den Kirchen in Sachen Prävention voraus. Und in Deutschland gibt es seit 14 Jahren eine Behörde auf Bundesebene. Können die Kirchen von beiden lernen?

 

Annalena Müller

Der Knall kam mit Ansage. Zweidrittel des evangelischen Kirchenparlamentes stimmte Mitte Juni gegen eine eigene Missbrauchsstudie. Dem Votum vorausgegangen war eine mehrstündige Debatte, in der die kantonalen Kirchenvertreter ihre Kritik an dem Studienprojekt ausdrückten: teuer, überambitioniert, unnötig. Statt Aufarbeitung mandatiert das Parlament seine Exekutive, das Geld in die Prävention zu investieren. Nur, wie gut können Präventionsmassnahmen greifen, wenn die Strukturen, die Missbrauch ermöglichen, unbekannt sind?

Die katholische Kirche beschäftigt sich gezwungenermassen seit Jahren mit dem Thema. Auf evangelischer Seite wollte man lange glauben, dass Missbrauch ein katholisches Problem sei, geboren aus der restriktiven Sexualmoral, einer hierarchischen Männerkirche und dem Zölibat. Die Erkenntnis, dass Missbrauch auch in den eigenen Reihen verbreitet ist, kam für viele als Schock.

Für Experten war diese Erkenntnis wenig überraschend. Man unterscheide schon lange «zwischen allgemeinen Strukturen, die Missbrauch begünstigten, und spezifischen Aspekten wie in der katholischen Welt zum Beispiel der Zölibat», erklärt Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der deutschen Bundesregierung.

Kirchen sind Risikoräume

Die zentrale Stellung einzelner Personen, deren Autorität auf Vertrauensverhältnissen gründet, machten Kirchen und religiöse Gemeinschaften zu Risikoräumen für sexuellen Missbrauch. «Sexuelle Gewalt hat immer etwas mit dem Missbrauch von Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnissen zu tun.» Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnisse gebe es besonders im Rahmen der Kinder- und Jugendarbeit und in seelsorgerischen Bereichen.

«Hinzu kommt für den Kontext der Kirchen, dass sie auf Vertrauen gebaute, geschlossene Systeme sind, mit eigenen Regeln bezogen auf die Rechenschaftspflicht», so die Beauftragte der Bundesregierung. «Es sind Systeme, in denen das Wort bestimmter Personen nicht hinterfragt wird. Vielfach fehlen dort auch klar definierte Verantwortlichkeiten, welche eine Kontrolle der Entscheidungsträger sicherstellen würde.»

Duales System schützt nicht

In den Schweizer Kirchen hatten viele auf das duale System als Schutz vor Missbrauch gesetzt. Spätestens die Missbrauchsstudie der Universität Zürich im September 2023 hat gezeigt: Die spezielle Kirchenstruktur, in welcher der pastoral-kirchlichen Seite jeweils eine staatskirchliche gegenübersteht, hat systemischen Missbrauch nicht verhindert.

Seither versucht sich die katholische Kirche an einem Katalog von Massnahmen, die nicht recht vorankommen wollen. Die Reformierten streiten, ob eine eigene Studie nötig ist – und haben sich vorerst dagegen entschieden. Beide Kirchen debattieren über die richtige Balance zwischen internen Massnahmen und externer Kooperation, z.B. mit staatlichen Opferhilfestellen. Überraschend selten schauen sie dabei über die Landesgrenzen hinaus. Dabei würde sich der Blick zum nördlichen Nachbarn durchaus lohnen.

In Deutschland mischt der Staat mit

Die Systeme in Deutschland und der Schweiz sind vergleichbar. Beide Nationen sind föderalistisch, ihre Verbindung zu den Kirchen ist gesetzlich verankert und Kirchenmitglieder entrichten Steuern.

Im Gegensatz zur Schweiz hat sich der Staat in Deutschland bereits vor 14 Jahren eingeschaltet. Als Reaktion auf die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg und anderen Bildungseinrichtungen hat die Bundesregierung im Jahr 2010 das Amt der/s Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) geschaffen. Seit 2022 hat Kerstin Claus die Position inne.

Das Aufgabengebiet der UBSKM umfasst alle Fragen zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen – nicht nur in der Kirche. Ihre Expertise bringen die Beauftragte und ihr rund 30-köpfiger Stab verschiedentlich ein. In den Regierungsstrukturen von Bund und Ländern genauso wie bei Präventionsveranstaltungen in Schulen, in der Ausbildung von Fachkräften, der Unterstützungsleistungen von Betroffenen oder auf Fachveranstaltungen zu strafrechtlichen oder familienrechtlichen Fragen.

Auch das niederschwellige Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch wird von der UBSKM gefördert. «Es berät seit zehn Jahren anonym und kostenfrei Betroffene, Angehörige, Fachkräfte und alle Menschen, die Fragen zum Thema haben», so Claus. In der Schweiz gibt es bis heute nichts Vergleichbares.

Externe nationale Struktur

«Eine nationale Struktur ist auch in einem föderalistischen Staat sehr hilfreich. Sie kann fachlich, strukturell und politisch Expertise sammeln und für verschiedene örtliche Stellen, von Schulen bis Opferberatungsstellen, wichtige Impulse geben», sagt Kerstin Claus.

Zentral für die Arbeit der UBSKM sind neben dem Austausch mit Betroffenen und Fachkommissionen Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien. Im Herbst soll ein eigenes Forschungszentrum seine Arbeit aufnehmen. «Die erste grosse Aufgabe wird eine repräsentative Dunkelfeldstudie sein, mit dem Ziel aktuelle Risikoräume für junge Menschen zu identifizieren.» Die Erkenntnisse seien wichtig, um eine wirksame Prävention und zielgerichtetes politisches Handeln zu ermöglichen.

Claus macht aber auch deutlich: «Weder die Existenz von Strukturen auf Bundesebene noch eines Forschungszentrums entheben die Kirchen ihrer Verantwortung.» Diese Ebenen seien vielmehr komplementär. Auch den Verweis, dass Missbrauch in der Familie und in Sportvereinen besonders häufig vorkomme und man daher die Kirchen nicht an den Pranger stellen solle, lässt Claus nicht gelten.

Reine Ablenkungsmanöver

«Die Verantwortungsbereiche liegen in den jeweiligen Strukturen. Die Kirchen müssen auch ihrem eigenen Selbstverständnis gerecht werden», sagt Claus. Deswegen hätten sie eine besondere Verantwortung, «sich diesem Teil der eigenen Geschichte sowie des aktuellen Geschehens und des Umgangs mit Betroffenen zu stellen und aufzuarbeiten.»

Die noch immer verbreitete Abwehrhaltung erklärt Claus mit dem tradierten Selbstverständnis der Kirchen, «ein Wächteramt innezuhaben und selbst die moralisch-ethischen Kritiker der Gesellschaft und des Staates zu sein.» In Sachen Missbrauch aber seien es just Staat, Gesellschaft und Medien, die dieses Wächteramt gegenüber den Kirchen ausüben.

Dass den Kirchen diese Rollenumkehr schwerfalle, kann Claus nachvollziehen. «Aber er ist nötig.» Äusserungen, wie «Wo gibt es auch oder sogar häufiger sexuelle Gewalt als in kirchlichen Settings» sind in den Augen der Beauftragten «reine «Ablenkungsmanöver».

«Geschlossene Systeme» sind Risikoräume

Natürlich sind Kirchen nicht die einzigen Risikoräume. Das strukturelle Risiko für Missbrauch ist überall dort erhöht, wo es sogenannte «geschlossenen Systeme» gibt. Darunter versteht man Bereiche, die durch eigene Regeln und Normen geprägt sind, wo es ein Innen und ein Aussen gibt und Mitglieder Zugang zu Wissen und Privilegien haben, von welchen Nicht-Mitgliedern ausgeschlossen sind. Dazu kommt die Frage der Machtverteilung innerhalb dieser Strukturen, die sich aufgrund eigener gegebener Regeln oder gewachsener Strukturen ergibt.

Das bestätigt Karin Iten, Präventionsexpertin bei Swiss Olympic und ehemalige Präventionsbeauftragte des Bistums Chur. Dass besonders der Leistungssport ein Risikoraum ist, weiss die Öffentlichkeit nicht erst seit dem Skandal um den ehemaligen Arzt der US-amerikanischen Elite-Turnerinnen Larry Nassar.

In der Schweiz «hat der Sport das Meldemanagement mit der nationalen Melde- und Untersuchungsstelle SSI landesweit ausgebaut», sagt Iten. Ein funktionierendes Meldesystem sei wichtig, aber zentral für einen nachhaltigen Kulturwandel «ist ein ehrliches Risikomanagement, welches systemische Schwachstellen angeht», so Iten. «Kritikfähigkeit im und am System ist essentiell.» Die Mehrheit der Sportfunktionäre erlebt Iten als «risikobewusst und lerninteressiert.» Dies unterscheide sich von der Erfahrung, die sie in der katholischen Kirche gemacht habe. «Dort werden kritische Stimmen, die auf Risiken im Alltag und im System hinweisen, von den obersten Leitungsverantwortlichen abgeblockt.» Auch der Widerstand fundamentalistische Kreise spiele in der Kirche eine grössere Rolle als im Sport.

Auch im Sport ist der Weg noch weit. Besonders im «Herzen des Leistungssports» sei das System träge, auch wegen der internationalen Verflechtungen. Aber die grundsätzliche Bereitschaft, das bisherige System ehrlich zu hinterfragen, sei gegeben und damit eine wichtige Grundvoraussetzung. Eine weitere sei die Akzeptanz von Fachpersonen und der Wille, Fachwissen anzunehmen.

Das sieht auch Kerstin Claus so. Nach 14 Jahren erfahre ihr Amt im «politischen, fachpolitischen und gesellschaftlichen Raum eine sehr hohe Akzeptanz auch in den Kirchen.» Den Schweizer Kirchen, aber auch der Politik könnte der internationale Austausch helfen. In Sachen Missbrauchsstrukturen ist die Schweiz kein Sonderfall. Das ist eine gute Nachricht, denn das heisst: sie muss das Rad nicht neu erfinden, sondern vor allem nach links und rechts schauen.

Dieser Text erschien Anfang Juli in der NZZ


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Teil 1 und Teil 2