Bildlegende: Kein Glaubenskrieg, sondern Diskussion vertiefen. Foto: obeyleesin, photocase
Kann man Organe ethisch entnehmen?
Der Ethiker Alberto Bondolfi zur Organspendedebatte
Seit 2004 wird die Transplantationsmedizin schweizweit geregelt. Einige Aspekte des entsprechenden Bundesgesetzes sind aber weiterhin kontrovers. Die letztjährige Volksinitiative wird zu einer Volksabstimmung führen – die Debatte aus der Perspektive eines Ethikers.
Von Prof. Alberto Bondolfi
Die Transplantationsmedizin ist seit dem 8. Oktober 2004 im Bundesgesetz (810.21) verankert. Es wird in verschiedenen Verordnungen konkretisiert, welche Teilaspekte dieser medizinischen Errungenschaft festlegen. Zuvor sorgten 15 unterschiedliche kantonale Gesetze für Verwirrung. Nachdem das Parlament das Transplantationsgesetz beraten und verabschiedet hatte, wurde kein Referendum dagegen erhoben. So kam es bei diesem Thema zu keiner Volksabstimmung. Nichtsdestotrotz sind einige Aspekte dieses Gesetzes weiterhin umstritten. Eine Volksinitiative von 2019 wird voraussichtlich dieses Jahr in einer Volksabstimmung münden. Das hat zu einer intensiven Debatte geführt.
Worum geht es bei dieser Initiative? In der Schweiz dürfen einer verstorbenen Person nur dann Organe, Gewebe oder Zellen entnommen werden, wenn das Einverständnis dazu zu Lebzeiten gegeben wurde (Zustimmungslösung). In vielen anderen Ländern gilt hingegen die Widerspruchslösung, bei der ein Schweigen des Verstorbenen als Zustimmung zur Organentnahme gewertet wird. Die Initiative möchte die Widerspruchslösung in der Schweiz einführen, um dem chronischen Organmangel in unserem Land abzuhelfen. Der Bundesrat will eine «erweiterte» Widerspruchslösung einführen und hat am 13. September 2019 eine entsprechende Vernehmlassung eröffnet. Wer nach seinem Tod keine Organe spenden möchte, soll dies neu festhalten müssen. Ohne Widerspruch dürfen nach dem Tod Organe und Gewebe entnommen werden. Darüber hinaus regelt der Gegenvorschlag des Bundesrats die Rechte der Angehörigen.
Was bedeuten diese beiden Vorschläge aus ethischer Sicht? Die Frage lässt sich nicht leicht beantworten, da in dieser Diskussion sowohl faktische als auch prinzipielle Elemente in gemischter Form auftreten. Zuerst erwarten die Befürworter*innen der Widerspruchslösung eine klare Zunahme der Organspenden in unserem Land. Da die Schweiz zu den europäischen Ländern mit einer sehr niedrigen Spenderquote gehört, ist es verständlich, dass man zu diesem Regulierungsmechanismus kommen will.
Die Gegner*innen dieses Ansatzes wiederum behaupten, dass die Widerspruchslösung die bewusste Freiwilligkeit der Spende in Frage stellt und somit ethisch nicht anzunehmen sei. In diesem Sinne hat sich etwa auch die Schweizer Bischofskonferenz geäussert. Nichtsdestotrotz hat kein europäisches Gericht die Gesetzgebungen, welche die Widerspruchslösung vorsehen, als Verletzung der Grundrechte des Menschen taxiert.
Meine persönliche Position soll nicht als Abstimmungsparole verstanden werden, sondern die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenken. Organentnahmen bei verstorbenen Patient*innen geschehen in einem sehr komplexen Kontext. Die Angehörigen haben in dieser Ausnahmesituation Mühe, den Willen ihrer Verstorbenen zu bezeugen. Die Ärzt*innen ihrerseits haben die moralische Pflicht, die Gefühle der Angehörigen einfühlsam zu respektieren und nachzuvollziehen. Der Gegenvorschlag des Bundesrats versucht, der Not der Angehörigen Rechnung zu tragen. Der Wille der Verstorbenen wird respektiert, aber nicht verabsolutiert, und beide Anliegen sind ethisch zu begrüssen. Bleibt zu hoffen, dass die Volksabstimmung die Diskussion weiter vertiefen wird und nicht in einen Glaubenskrieg ausartet.
Der röm.-kath. Theologe und Ethiker Prof. Alberto Bondolfi hat wesentlich zur Entwicklung der bioethischen Reflexion in der Schweiz beigetragen. Im Rahmen seines Arbeitsschwerpunkts, der biomedizinischen Ethik, hat er sich insbesondere mit Fragen der Transplantationsmedizin befasst. Foto: zVg
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