Die vier Evangelisten in der Bibel von Moutier-Grandval (Folio 352v): vier Symbole – vier Perspektiven auf Jesus. Bildschirmfoto aus der aktuellen Ausstellung im Musée Jurassien d’Art et d’Histoire, Delémont

Karfreitg mal vier: Das Leiden Jesus neu lesen

Alle vier Evangelien erzählen vom Leiden und Sterben Jesu. Bei genauerem Hinsehen lassen sich auffällige Unterschiede entdecken – etwa bei den letzten Worten Jesu am Kreuz.


Detlef Hecking

Die vier Evangelisten setzen unterschiedliche Akzente, um die Bedeutung Jesu auszudrücken und in die persönliche Nachfolge einzuladen. Besonders deutlich wird dies bei den letzten Worten, die Jesus am Kreuz spricht. Bei Markus und Matthäus betet Jesus Psalm 22: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen…» Wer diesen Psalm betet, fühlt sich von Menschen und von Gott selbst verlassen. Trotzdem ringt sich der oder die Betende Schritt für Schritt zu der Hoffnung durch, dass Gott Rettung bringt: «Du aber, Gott, halte dich nicht fern! Du, meine Stärke, eile mir zu Hilfe! … Ich will deinen Namen meinen Brüdern und Schwestern verkünden, inmitten der Versammlung dich loben…» (Psalm 22,20.23). 

Schon im frühesten Christentum diente dieser Psalm zur theologischen und spirituellen Deutung des Schicksals Jesu – nicht zuletzt deshalb, weil einige Verse aus Psalm 22 eng mit der Passion verwoben sind: «Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand…» (Psalm 22,19). 

Von tiefster Not bis Gottvertrauen

Bei Lukas betet Jesus einen Psalm mit ganz anderem Klang: «Gott, bei dir habe ich mich geborgen. Lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit, rette mich in deiner Gerechtigkeit…» (Psalm 31,2). Was Lukas aus Psalm 31 als letztes Wort Jesu zitiert, drückt spezifisch lukanische Theologie aus: «In deine Hände lege ich meinen Geist» (Psalm 31,6). 

Schon der Ursprung Jesu ist vom Heiligen Geist gewirkt (Lukas 1,35), und seine Mutter Maria jubelt darüber im Heiligen Geist (Lukas 1,47). Bei der Taufe steigt der Heilige Geist auf Jesus herab (Lukas 3,22), und später preist Jesus selbst Gott im Heiligen Geist (Lukas 10,21). Am Kreuz gibt Jesus den von Gott empfangenen Geist mit den Worten von Psalm 31,6 zurück: «Und Jesus rief mit lauter Stimme: Vater in deine Hände lege ich meinen Geist. Mit diesen Worten hauchte er den Geist aus» (Lukas 23,46). 

Im Johannesevangelium spricht Jesus am Kreuz hingegen kein Psalmengebet. In höchster Eigenständigkeit stirbt er mit den Worten: «Es ist vollbracht» (Joh 19,30). Das ist Ausdruck der johanneischen Christologie, wonach Jesus als lebendiges Wort von Anfang an bei Gott war (Joh 1,1), später aber «unter uns gewohnt» (1,14) und von Gott «Kunde gebracht» hat (1,18). 

Als Vollendung dieses Weges, so Johannes, muss Jesus «über die Erde erhöht» werden (12,32–33; 3,14) – gemeint ist die Kreuzigung. 

Unterschiedliche Jesusbilder 

Die Grundbotschaft Jesu malen alle Evangelisten in ähnlichen Farben. Im Detail zeichnen sie das Antlitz Jesu jedoch unterschiedlich. 

Die letzten Worte am Kreuz zeigen Jesus menschlich-verzweifelt (Markus, Matthäus), vertrauensvoll (Lukas) und göttlich-erhaben (Johannes) zugleich. Es sind Perspektiven, die auch uns heute ins Leben und in die Nachfolge Jesu einladen – bis in die Hoffnung auf Auferweckung hinein.
 

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